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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 9. Das Staatsgebiet.
Schiffsoffizieren, Mannschaften und andern in den Musterrollen
unter irgend welcher Bezeichnung aufgenommenen Personen zu
entscheiden; insbesondere auch über Streitigkeiten, die sich auf
die Heuer und auf die Erfüllung anderer vertragsmässiger Ver-
bindlichkeiten beziehen. Die Ortsbehörden dürfen einschreiten,
wenn die Unordnungen, welche aus solchen Zwistigkeiten entstehen,
geeignet sind, die öffentliche Ruhe im Lande oder im Hafen zu
stören oder wenn Landesangehörige oder nicht zur Schiffsbesatzung
gehörige Personen beteiligt sind.

In dieser Fassung ist der, insbesondere von Frankreich seit
der Entscheidung des Conseil d'Etat von 1806 vertretene Rechts-
satz in einer grossen Anzahl von Staatsverträgen, insbesondere in
sämtlichen Verträgen Frankreichs, des Deutschen Reiches und anderer
Staaten, ausdrücklich ausgesprochen worden. Für ihn auch das
Institut für Völkerrecht. Auch englische Schriftsteller vertreten
ihn (so Walker 229). Zwei entgegengesetzte Ansichten stehen
ihm gegenüber:

Nach der einen Ansicht hat der Uferstaat die uneingeschränkte
Gerichtsbarkeit auch über diejenigen fremden Schiffe, welche die
Küstengewässer, ohne anzuhalten, durchfahren. Dieser Satz wurde
ausgesprochen durch die englische Territorial waters jurisdiction
act vom 16. August 1878. Kurz vorher hatte der Central criminal
Court seine Zuständigkeit verneint, als der Kapitän des deutschen
Schiffes Franconia, das mit einem englischen Schiff im Februar 1876
in der Nähe von Dover zusammengestossen war, von den eng-
lischen Gerichten wegen der Verursachung des Todes eines der
Passagiere des englischen Schiffes verfolgt wurde. Auch Zorn,
Staatsrecht II 839, schliesst sich der neuenglischen Ansicht an.
Dagegen behaupten andere (so Fedozzi, R. G. IV 202) die unbe-
dingte Exterritorialität auch des in fremden Küstengewässern ver-
ankerten Handelsschiffes und mithin die Gerichtsbarkeit des Staates,
dem es durch seine Flagge angehört.

Vgl. auch Negropontes, Die Zuständigkeit der Staaten für die auf dem
Meere begangenen Delikte. 1894.


§ 9. Das Staatsgebiet.
Schiffsoffizieren, Mannschaften und andern in den Musterrollen
unter irgend welcher Bezeichnung aufgenommenen Personen zu
entscheiden; insbesondere auch über Streitigkeiten, die sich auf
die Heuer und auf die Erfüllung anderer vertragsmäſsiger Ver-
bindlichkeiten beziehen. Die Ortsbehörden dürfen einschreiten,
wenn die Unordnungen, welche aus solchen Zwistigkeiten entstehen,
geeignet sind, die öffentliche Ruhe im Lande oder im Hafen zu
stören oder wenn Landesangehörige oder nicht zur Schiffsbesatzung
gehörige Personen beteiligt sind.

In dieser Fassung ist der, insbesondere von Frankreich seit
der Entscheidung des Conseil d’Etat von 1806 vertretene Rechts-
satz in einer groſsen Anzahl von Staatsverträgen, insbesondere in
sämtlichen Verträgen Frankreichs, des Deutschen Reiches und anderer
Staaten, ausdrücklich ausgesprochen worden. Für ihn auch das
Institut für Völkerrecht. Auch englische Schriftsteller vertreten
ihn (so Walker 229). Zwei entgegengesetzte Ansichten stehen
ihm gegenüber:

Nach der einen Ansicht hat der Uferstaat die uneingeschränkte
Gerichtsbarkeit auch über diejenigen fremden Schiffe, welche die
Küstengewässer, ohne anzuhalten, durchfahren. Dieser Satz wurde
ausgesprochen durch die englische Territorial waters jurisdiction
act vom 16. August 1878. Kurz vorher hatte der Central criminal
Court seine Zuständigkeit verneint, als der Kapitän des deutschen
Schiffes Franconia, das mit einem englischen Schiff im Februar 1876
in der Nähe von Dover zusammengestoſsen war, von den eng-
lischen Gerichten wegen der Verursachung des Todes eines der
Passagiere des englischen Schiffes verfolgt wurde. Auch Zorn,
Staatsrecht II 839, schlieſst sich der neuenglischen Ansicht an.
Dagegen behaupten andere (so Fedozzi, R. G. IV 202) die unbe-
dingte Exterritorialität auch des in fremden Küstengewässern ver-
ankerten Handelsschiffes und mithin die Gerichtsbarkeit des Staates,
dem es durch seine Flagge angehört.

Vgl. auch Negropontes, Die Zuständigkeit der Staaten für die auf dem
Meere begangenen Delikte. 1894.


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[53/0075] § 9. Das Staatsgebiet. Schiffsoffizieren, Mannschaften und andern in den Musterrollen unter irgend welcher Bezeichnung aufgenommenen Personen zu entscheiden; insbesondere auch über Streitigkeiten, die sich auf die Heuer und auf die Erfüllung anderer vertragsmäſsiger Ver- bindlichkeiten beziehen. Die Ortsbehörden dürfen einschreiten, wenn die Unordnungen, welche aus solchen Zwistigkeiten entstehen, geeignet sind, die öffentliche Ruhe im Lande oder im Hafen zu stören oder wenn Landesangehörige oder nicht zur Schiffsbesatzung gehörige Personen beteiligt sind. In dieser Fassung ist der, insbesondere von Frankreich seit der Entscheidung des Conseil d’Etat von 1806 vertretene Rechts- satz in einer groſsen Anzahl von Staatsverträgen, insbesondere in sämtlichen Verträgen Frankreichs, des Deutschen Reiches und anderer Staaten, ausdrücklich ausgesprochen worden. Für ihn auch das Institut für Völkerrecht. Auch englische Schriftsteller vertreten ihn (so Walker 229). Zwei entgegengesetzte Ansichten stehen ihm gegenüber: Nach der einen Ansicht hat der Uferstaat die uneingeschränkte Gerichtsbarkeit auch über diejenigen fremden Schiffe, welche die Küstengewässer, ohne anzuhalten, durchfahren. Dieser Satz wurde ausgesprochen durch die englische Territorial waters jurisdiction act vom 16. August 1878. Kurz vorher hatte der Central criminal Court seine Zuständigkeit verneint, als der Kapitän des deutschen Schiffes Franconia, das mit einem englischen Schiff im Februar 1876 in der Nähe von Dover zusammengestoſsen war, von den eng- lischen Gerichten wegen der Verursachung des Todes eines der Passagiere des englischen Schiffes verfolgt wurde. Auch Zorn, Staatsrecht II 839, schlieſst sich der neuenglischen Ansicht an. Dagegen behaupten andere (so Fedozzi, R. G. IV 202) die unbe- dingte Exterritorialität auch des in fremden Küstengewässern ver- ankerten Handelsschiffes und mithin die Gerichtsbarkeit des Staates, dem es durch seine Flagge angehört. Vgl. auch Negropontes, Die Zuständigkeit der Staaten für die auf dem Meere begangenen Delikte. 1894.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/75>, abgerufen am 24.11.2024.