I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
1. In der Personal-Union ist jeder einzelne der verbundenen Staaten völkerrechtliches Rechtssubjekt.
Beispiele: 1707 bis 26. Mai 1857 Preussen und Neuenburg; 1815 bis 23. Oktober 1890 die Niederlande und Luxemburg. Seit 1877 Grossbritannien und Indien; seit 1885 Belgien und der Kongostaat.
2. Das Gleiche gilt begrifflich vom Staatenbund; doch kann der Bund daneben selbständiges völkerrechtliches Rechtssubjekt in einzelnen Beziehungen sein.
Beispiel: Der Deutsche Bund 1815--1866. Artikel 113 der deutschen Verfassung von 1815: "Die Bundesglieder behalten zwar das Recht der Bündnisse aller Art, verpflichten sich jedoch, keine Verbindung einzugehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Bundesstaaten gerichtet ist." Daneben hatte der Bund aktives und passives Gesandtschaftsrecht.
3. Der Bundesstaat ist selbständiges völkerrechtliches Rechts- subjekt; doch kann den einzelnen Staaten eine beschränkte völker- rechtliche Handlungsfähigkeit überlassen sein.
Beispiele: Die Schweiz nach der Verfassung vom 29. Mai 1874. Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika nach der Verfassung vom 17. September 1787. Hier wie dort ist der Bund ausschliess- lich Rechtssubjekt. Doch haben die Schweizer Kantone ein, wenn auch sehr beschränktes, Vertragsrecht. -- Anders das Deutsche Reich. Artikel 11 der Verfassung: "Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu er- klären und Frieden zu schliessen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen." Doch haben die einzelnen Staaten das aktive und passive Gesandtschaftsrecht, und soweit die Zuständigkeit des Reiches nicht eingreift, das Recht des Vertragschlusses.
4. Die Realunion kommt für das Völkerrecht nur als solche in Betracht, so dass die verbundenen Staaten jeder für sich nicht als völkerrechtliche Rechtssubjekte erscheinen.
Ein gutes Beispiel bietet Österreich-Ungarn seit dem Ausgleich von 1867. Aber auch in der Realunion kann durch das die Staaten
I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
1. In der Personal-Union ist jeder einzelne der verbundenen Staaten völkerrechtliches Rechtssubjekt.
Beispiele: 1707 bis 26. Mai 1857 Preuſsen und Neuenburg; 1815 bis 23. Oktober 1890 die Niederlande und Luxemburg. Seit 1877 Groſsbritannien und Indien; seit 1885 Belgien und der Kongostaat.
2. Das Gleiche gilt begrifflich vom Staatenbund; doch kann der Bund daneben selbständiges völkerrechtliches Rechtssubjekt in einzelnen Beziehungen sein.
Beispiel: Der Deutsche Bund 1815—1866. Artikel 113 der deutschen Verfassung von 1815: „Die Bundesglieder behalten zwar das Recht der Bündnisse aller Art, verpflichten sich jedoch, keine Verbindung einzugehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Bundesstaaten gerichtet ist.“ Daneben hatte der Bund aktives und passives Gesandtschaftsrecht.
3. Der Bundesstaat ist selbständiges völkerrechtliches Rechts- subjekt; doch kann den einzelnen Staaten eine beschränkte völker- rechtliche Handlungsfähigkeit überlassen sein.
Beispiele: Die Schweiz nach der Verfassung vom 29. Mai 1874. Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika nach der Verfassung vom 17. September 1787. Hier wie dort ist der Bund ausschlieſs- lich Rechtssubjekt. Doch haben die Schweizer Kantone ein, wenn auch sehr beschränktes, Vertragsrecht. — Anders das Deutsche Reich. Artikel 11 der Verfassung: „Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu er- klären und Frieden zu schlieſsen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen.“ Doch haben die einzelnen Staaten das aktive und passive Gesandtschaftsrecht, und soweit die Zuständigkeit des Reiches nicht eingreift, das Recht des Vertragschlusses.
4. Die Realunion kommt für das Völkerrecht nur als solche in Betracht, so daſs die verbundenen Staaten jeder für sich nicht als völkerrechtliche Rechtssubjekte erscheinen.
Ein gutes Beispiel bietet Österreich-Ungarn seit dem Ausgleich von 1867. Aber auch in der Realunion kann durch das die Staaten
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I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
1. In der Personal-Union ist jeder einzelne der verbundenen
Staaten völkerrechtliches Rechtssubjekt.
Beispiele: 1707 bis 26. Mai 1857 Preuſsen und Neuenburg;
1815 bis 23. Oktober 1890 die Niederlande und Luxemburg. Seit
1877 Groſsbritannien und Indien; seit 1885 Belgien und der
Kongostaat.
2. Das Gleiche gilt begrifflich vom Staatenbund; doch kann
der Bund daneben selbständiges völkerrechtliches Rechtssubjekt in
einzelnen Beziehungen sein.
Beispiel: Der Deutsche Bund 1815—1866. Artikel 113 der
deutschen Verfassung von 1815: „Die Bundesglieder behalten zwar
das Recht der Bündnisse aller Art, verpflichten sich jedoch, keine
Verbindung einzugehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes
oder einzelner Bundesstaaten gerichtet ist.“ Daneben hatte der
Bund aktives und passives Gesandtschaftsrecht.
3. Der Bundesstaat ist selbständiges völkerrechtliches Rechts-
subjekt; doch kann den einzelnen Staaten eine beschränkte völker-
rechtliche Handlungsfähigkeit überlassen sein.
Beispiele: Die Schweiz nach der Verfassung vom 29. Mai 1874.
Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika nach der Verfassung
vom 17. September 1787. Hier wie dort ist der Bund ausschlieſs-
lich Rechtssubjekt. Doch haben die Schweizer Kantone ein, wenn
auch sehr beschränktes, Vertragsrecht. — Anders das Deutsche
Reich. Artikel 11 der Verfassung: „Der Kaiser hat das Reich
völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu er-
klären und Frieden zu schlieſsen, Bündnisse und andere Verträge
mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu
empfangen.“ Doch haben die einzelnen Staaten das aktive und
passive Gesandtschaftsrecht, und soweit die Zuständigkeit des
Reiches nicht eingreift, das Recht des Vertragschlusses.
4. Die Realunion kommt für das Völkerrecht nur als solche in
Betracht, so daſs die verbundenen Staaten jeder für sich nicht als
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Ein gutes Beispiel bietet Österreich-Ungarn seit dem Ausgleich
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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/46>, abgerufen am 28.07.2024.
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