II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Verträge, erlöschen. Es giebt im Völkerrecht keine Gesamtnach- folge von Todes wegen.
Zutreffend Gareis 59. Die entgegengesetzte Ansicht wird überwiegend in der Litteratur vertreten. Vgl. Martens-Bergbohm I 278.
Das Gesagte gilt zweifellos von dem Fall, wenn ein Staat auf dem Weg der Eroberung zum Gebietsteil eines andern wird; Sache der in ihren erworbenen Rechten bedrohten dritten Staaten ist es, gegen die Eroberung Einspruch zu erheben und so ihre Inter- essen zu wahren. Mit der Eroberung Belgiens durch Frankreich würde ganz zweifellos die Neutralität des ersteren untergegangen sein. Das Gesagte gilt aber auch von dem Fall eines scheinbar derivativen Erwerbs, etwa infolge eines zwischen dem einverleibten Staate und dem erwerbenden Staate geschlossenen Vertrages, denn dieser Vertrag bindet nur, solange die beiden Rechtssubjekte be- stehen. Die Erwerbung des Kongostaates durch Belgien infolge des "Testaments" König Leopolds würde die Vereinbarungen der Kongoakte von 1885 hinfällig machen, wenn anders die Garantie- mächte von 1831 und die Unterzeichner der Kongoakte diese Er- werbung stillschweigend und ohne ihre Interessen wahrzunehmen, dulden sollten (oben § 10 I 4).
Vgl. Fauchille, R. G. II 400 und oben § 20 II.
Umgekehrt erstrecken sich mit dem Augenblick der Erwerbung die völkerrechtlichen Beziehungen des erwerbenden Staates auch auf das neuerworbene Gebiet.
Mit der Bildung des Königreichs Italien erloschen die von Parma, Modena, Toskana geschlossenen Verträge; die von Sardinien geschlossenen Verträge dagegen dehnten sich auf das gesamte Gebiet des neuentstandenen Einheitsstaates aus. Ebenso 1866 im Verhältnis zwischen Preussen einerseits, den einverleibten Staaten andrerseits gegenüber dem Ausland.
Spaltet sich ein Staat in zwei oder mehrere Teile, wie die Öster- reichische Monarchie 1867 in Österreich und Ungarn, so bleiben die bisherigen Rechtsverhältnisse des Einheitsstaates auch für die neuge- gründeten Teilstaaten weiter bestehen.
II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Verträge, erlöschen. Es giebt im Völkerrecht keine Gesamtnach- folge von Todes wegen.
Zutreffend Gareis 59. Die entgegengesetzte Ansicht wird überwiegend in der Litteratur vertreten. Vgl. Martens-Bergbohm I 278.
Das Gesagte gilt zweifellos von dem Fall, wenn ein Staat auf dem Weg der Eroberung zum Gebietsteil eines andern wird; Sache der in ihren erworbenen Rechten bedrohten dritten Staaten ist es, gegen die Eroberung Einspruch zu erheben und so ihre Inter- essen zu wahren. Mit der Eroberung Belgiens durch Frankreich würde ganz zweifellos die Neutralität des ersteren untergegangen sein. Das Gesagte gilt aber auch von dem Fall eines scheinbar derivativen Erwerbs, etwa infolge eines zwischen dem einverleibten Staate und dem erwerbenden Staate geschlossenen Vertrages, denn dieser Vertrag bindet nur, solange die beiden Rechtssubjekte be- stehen. Die Erwerbung des Kongostaates durch Belgien infolge des „Testaments“ König Leopolds würde die Vereinbarungen der Kongoakte von 1885 hinfällig machen, wenn anders die Garantie- mächte von 1831 und die Unterzeichner der Kongoakte diese Er- werbung stillschweigend und ohne ihre Interessen wahrzunehmen, dulden sollten (oben § 10 I 4).
Vgl. Fauchille, R. G. II 400 und oben § 20 II.
Umgekehrt erstrecken sich mit dem Augenblick der Erwerbung die völkerrechtlichen Beziehungen des erwerbenden Staates auch auf das neuerworbene Gebiet.
Mit der Bildung des Königreichs Italien erloschen die von Parma, Modena, Toskana geschlossenen Verträge; die von Sardinien geschlossenen Verträge dagegen dehnten sich auf das gesamte Gebiet des neuentstandenen Einheitsstaates aus. Ebenso 1866 im Verhältnis zwischen Preuſsen einerseits, den einverleibten Staaten andrerseits gegenüber dem Ausland.
Spaltet sich ein Staat in zwei oder mehrere Teile, wie die Öster- reichische Monarchie 1867 in Österreich und Ungarn, so bleiben die bisherigen Rechtsverhältnisse des Einheitsstaates auch für die neuge- gründeten Teilstaaten weiter bestehen.
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II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Verträge, erlöschen. Es giebt im Völkerrecht keine Gesamtnach-
folge von Todes wegen.
Zutreffend Gareis 59. Die entgegengesetzte Ansicht wird überwiegend
in der Litteratur vertreten. Vgl. Martens-Bergbohm I 278.
Das Gesagte gilt zweifellos von dem Fall, wenn ein Staat
auf dem Weg der Eroberung zum Gebietsteil eines andern wird;
Sache der in ihren erworbenen Rechten bedrohten dritten Staaten
ist es, gegen die Eroberung Einspruch zu erheben und so ihre Inter-
essen zu wahren. Mit der Eroberung Belgiens durch Frankreich
würde ganz zweifellos die Neutralität des ersteren untergegangen
sein. Das Gesagte gilt aber auch von dem Fall eines scheinbar
derivativen Erwerbs, etwa infolge eines zwischen dem einverleibten
Staate und dem erwerbenden Staate geschlossenen Vertrages, denn
dieser Vertrag bindet nur, solange die beiden Rechtssubjekte be-
stehen. Die Erwerbung des Kongostaates durch Belgien infolge
des „Testaments“ König Leopolds würde die Vereinbarungen der
Kongoakte von 1885 hinfällig machen, wenn anders die Garantie-
mächte von 1831 und die Unterzeichner der Kongoakte diese Er-
werbung stillschweigend und ohne ihre Interessen wahrzunehmen,
dulden sollten (oben § 10 I 4).
Vgl. Fauchille, R. G. II 400 und oben § 20 II.
Umgekehrt erstrecken sich mit dem Augenblick der Erwerbung
die völkerrechtlichen Beziehungen des erwerbenden Staates auch auf
das neuerworbene Gebiet.
Mit der Bildung des Königreichs Italien erloschen die von
Parma, Modena, Toskana geschlossenen Verträge; die von Sardinien
geschlossenen Verträge dagegen dehnten sich auf das gesamte
Gebiet des neuentstandenen Einheitsstaates aus. Ebenso 1866 im
Verhältnis zwischen Preuſsen einerseits, den einverleibten Staaten
andrerseits gegenüber dem Ausland.
Spaltet sich ein Staat in zwei oder mehrere Teile, wie die Öster-
reichische Monarchie 1867 in Österreich und Ungarn, so bleiben die
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gründeten Teilstaaten weiter bestehen.
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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/144>, abgerufen am 16.02.2025.
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