Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor- respondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todschlag, Tötung auf Verlangen, Kindesmord, fahrlässige Tötung, Tötung im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver- brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange usw.
II. So kann also die Norm, die dem Strafgesetze zu Grunde liegt, eine von diesem losgelöste Existenz führen, ihre eigene Geschichte haben. Sie kann da sein, lange ehe ein Strafgesetz existirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf- gesetz mit sich.
Am deutlichsten vielleicht tritt diese Unabhängigkeit hervor in den sog. Blankettstrafgesetzen nach Binding ("blinde" Strafdrohungen nennt sie Heinze). Es sind jene, in welchen der Gesetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer Norm, die von einer anderen Gewalt erlassen ist oder er- lassen werden soll. Beispiele bieten StGB. §§. 145, 327 u. A. mehr.
III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der Gesetzgeber an gewisse Delikte die Strafe als Rechtsfolge? Diese Frage schließt zwei Unterfragen in sich. Eine nega- tive: warum nur an gewisse Delikte? eine positive: warum gerade an diese gewissen Delikte? Und da jedes Verbrechen Delikt ist, so können wir die Frage auch so stellen: Wodurch unterscheidet sich das mit Strafe belegte Delikt (das sog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe belegten (dem sog. civilen Unrecht)?2
1. Die Strafe ist Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüter-
2[Spaltenumbruch]
Vgl. insbes. Merkel krim. Abhandlungen 1867; die übrige[Spaltenumbruch]
Literatur bei Meyer Lehrb. S. 1 Note 1.
Das Verbrechen. § 4.
Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor- reſpondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todſchlag, Tötung auf Verlangen, Kindesmord, fahrläſſige Tötung, Tötung im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver- brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange uſw.
II. So kann alſo die Norm, die dem Strafgeſetze zu Grunde liegt, eine von dieſem losgelöſte Exiſtenz führen, ihre eigene Geſchichte haben. Sie kann da ſein, lange ehe ein Strafgeſetz exiſtirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf- geſetz mit ſich.
Am deutlichſten vielleicht tritt dieſe Unabhängigkeit hervor in den ſog. Blankettſtrafgeſetzen nach Binding („blinde“ Strafdrohungen nennt ſie Heinze). Es ſind jene, in welchen der Geſetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer Norm, die von einer anderen Gewalt erlaſſen iſt oder er- laſſen werden ſoll. Beiſpiele bieten StGB. §§. 145, 327 u. A. mehr.
III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der Geſetzgeber an gewiſſe Delikte die Strafe als Rechtsfolge? Dieſe Frage ſchließt zwei Unterfragen in ſich. Eine nega- tive: warum nur an gewiſſe Delikte? eine poſitive: warum gerade an dieſe gewiſſen Delikte? Und da jedes Verbrechen Delikt iſt, ſo können wir die Frage auch ſo ſtellen: Wodurch unterſcheidet ſich das mit Strafe belegte Delikt (das ſog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe belegten (dem ſog. civilen Unrecht)?2
1. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter-
2[Spaltenumbruch]
Vgl. insbeſ. Merkel krim. Abhandlungen 1867; die übrige[Spaltenumbruch]
Literatur bei Meyer Lehrb. S. 1 Note 1.
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Das Verbrechen. § 4.
Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor-
reſpondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der
Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todſchlag, Tötung
auf Verlangen, Kindesmord, fahrläſſige Tötung, Tötung
im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver-
brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange uſw.
II. So kann alſo die Norm, die dem Strafgeſetze zu
Grunde liegt, eine von dieſem losgelöſte Exiſtenz führen, ihre
eigene Geſchichte haben. Sie kann da ſein, lange ehe ein
Strafgeſetz exiſtirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf-
geſetz mit ſich.
Am deutlichſten vielleicht tritt dieſe Unabhängigkeit hervor
in den ſog. Blankettſtrafgeſetzen nach Binding („blinde“
Strafdrohungen nennt ſie Heinze). Es ſind jene, in welchen
der Geſetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer
Norm, die von einer anderen Gewalt erlaſſen iſt oder er-
laſſen werden ſoll. Beiſpiele bieten StGB. §§. 145, 327
u. A. mehr.
III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der
Geſetzgeber an gewiſſe Delikte die Strafe als Rechtsfolge?
Dieſe Frage ſchließt zwei Unterfragen in ſich. Eine nega-
tive: warum nur an gewiſſe Delikte? eine poſitive:
warum gerade an dieſe gewiſſen Delikte? Und da jedes
Verbrechen Delikt iſt, ſo können wir die Frage auch ſo ſtellen:
Wodurch unterſcheidet ſich das mit Strafe belegte Delikt
(das ſog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe
belegten (dem ſog. civilen Unrecht)? 2
1. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter-
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S. 1 Note 1.
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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/37>, abgerufen am 17.02.2025.
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