Erstes Buch. II. Delikte gegen die persönliche Freiheit.
III. Die qualifizierte totale Entziehung der per- sönlichen Freiheit oder der Menschenraub. Das qualifi- zierende Moment liegt darin, daß der Thäter, nicht zufrie- den damit, dem Verletzten den Gebrauch seiner persönlichen Freiheit entzogen zu haben, sich eine positive und unmittel- bare Herrschaft, eine Verfügungsgewalt über denselben anmaßt. Es gehören hierher:
1. Der eigentliche Menschenraub (StGB. §. 234); Objekt: jeder Mensch; die Erlangung der Herrschaft ("Bemächtigung" sagt das Gesetz) muß erfolgen durch a) Ge- walt (vgl. oben §. 63 I 1a); b) Drohung (vgl. oben §. 63 I 1b), die aber hier nicht Drohung mit einem Ver- brechen oder Vergehen zu sein braucht; c) List, d. i. Täu- schung des zu Verletzenden über die Kausalität der von ihm vorzunehmenden Handlung. Die Absicht (hier gleich er- weiterter Vorsatz oben §. 28 III) muß darauf gerichtet sein, den Angegriffenen in hülfloser Lage auszusetzen oder in Sklaverei, Leibeigenschaft oder in auswärtige Kriegs- oder Schiffsdienste zu bringen. Das Verbrechen ist vollendet mit der (positiven) Erlangung der Herrschaft; der Versuch beginnt mit dem (negativen) Eingriff in die persönliche Frei- heit. Strafe: Zuchthaus.
2. Kinderraub (StGB. §. 235) begangen dadurch, daß eine minderjährige Person ihren Eltern oder ihrem Vormund durch Gewalt, Drohung, List entzogen wird. An- gegriffen ist die persönliche Freiheit des Minderjährigen; aber die Dispositionsbefugnis über dieses Rechtsgut steht nicht ihm, sondern den Eltern oder dem Vormunde zu. Darum schließt die Einwilligung der letztgenannten Personen die Normwidrigkeit des Thuns aus, während die des Min- derjährigen selbst irrelevant ist. Vollendet ist das Delikt,
Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.
III. Die qualifizierte totale Entziehung der per- ſönlichen Freiheit oder der Menſchenraub. Das qualifi- zierende Moment liegt darin, daß der Thäter, nicht zufrie- den damit, dem Verletzten den Gebrauch ſeiner perſönlichen Freiheit entzogen zu haben, ſich eine poſitive und unmittel- bare Herrſchaft, eine Verfügungsgewalt über denſelben anmaßt. Es gehören hierher:
1. Der eigentliche Menſchenraub (StGB. §. 234); Objekt: jeder Menſch; die Erlangung der Herrſchaft („Bemächtigung“ ſagt das Geſetz) muß erfolgen durch a) Ge- walt (vgl. oben §. 63 I 1a); b) Drohung (vgl. oben §. 63 I 1b), die aber hier nicht Drohung mit einem Ver- brechen oder Vergehen zu ſein braucht; c) Liſt, d. i. Täu- ſchung des zu Verletzenden über die Kauſalität der von ihm vorzunehmenden Handlung. Die Abſicht (hier gleich er- weiterter Vorſatz oben §. 28 III) muß darauf gerichtet ſein, den Angegriffenen in hülfloſer Lage auszuſetzen oder in Sklaverei, Leibeigenſchaft oder in auswärtige Kriegs- oder Schiffsdienſte zu bringen. Das Verbrechen iſt vollendet mit der (poſitiven) Erlangung der Herrſchaft; der Verſuch beginnt mit dem (negativen) Eingriff in die perſönliche Frei- heit. Strafe: Zuchthaus.
2. Kinderraub (StGB. §. 235) begangen dadurch, daß eine minderjährige Perſon ihren Eltern oder ihrem Vormund durch Gewalt, Drohung, Liſt entzogen wird. An- gegriffen iſt die perſönliche Freiheit des Minderjährigen; aber die Dispoſitionsbefugnis über dieſes Rechtsgut ſteht nicht ihm, ſondern den Eltern oder dem Vormunde zu. Darum ſchließt die Einwilligung der letztgenannten Perſonen die Normwidrigkeit des Thuns aus, während die des Min- derjährigen ſelbſt irrelevant iſt. Vollendet iſt das Delikt,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0280"n="254"/><fwplace="top"type="header">Erſtes Buch. <hirendition="#aq">II.</hi> Delikte gegen die perſönliche Freiheit.</fw><lb/><p><hirendition="#aq">III.</hi> Die <hirendition="#g">qualifizierte totale Entziehung</hi> der per-<lb/>ſönlichen Freiheit oder der <hirendition="#g">Menſchenraub</hi>. Das qualifi-<lb/>
zierende Moment liegt darin, daß der Thäter, nicht zufrie-<lb/>
den damit, dem Verletzten den Gebrauch ſeiner perſönlichen<lb/>
Freiheit entzogen zu haben, ſich eine poſitive und unmittel-<lb/>
bare <hirendition="#g">Herrſchaft</hi>, eine Verfügungsgewalt über denſelben<lb/>
anmaßt. Es gehören hierher:</p><lb/><p>1. Der <hirendition="#g">eigentliche Menſchenraub</hi> (StGB. §. 234);<lb/>
Objekt: <hirendition="#g">jeder Menſch</hi>; die Erlangung der Herrſchaft<lb/>
(„Bemächtigung“ſagt das Geſetz) muß erfolgen durch <hirendition="#aq">a</hi>) <hirendition="#g">Ge-<lb/>
walt</hi> (vgl. oben §. 63 <hirendition="#aq">I 1a</hi>); <hirendition="#aq">b</hi>) <hirendition="#g">Drohung</hi> (vgl. oben<lb/>
§. 63 <hirendition="#aq">I 1b</hi>), die aber hier nicht Drohung mit einem Ver-<lb/>
brechen oder Vergehen zu ſein braucht; <hirendition="#aq">c</hi>) <hirendition="#g">Liſt</hi>, d. i. Täu-<lb/>ſchung des zu Verletzenden über die Kauſalität der von ihm<lb/>
vorzunehmenden Handlung. Die <hirendition="#g">Abſicht</hi> (hier gleich er-<lb/>
weiterter Vorſatz oben §. 28 <hirendition="#aq">III</hi>) muß darauf gerichtet ſein,<lb/>
den Angegriffenen in hülfloſer Lage auszuſetzen oder in<lb/>
Sklaverei, Leibeigenſchaft oder in auswärtige Kriegs- oder<lb/>
Schiffsdienſte zu bringen. Das Verbrechen iſt <hirendition="#g">vollendet</hi><lb/>
mit der (poſitiven) Erlangung der Herrſchaft; der <hirendition="#g">Verſuch</hi><lb/>
beginnt mit dem (negativen) Eingriff in die perſönliche Frei-<lb/>
heit. <hirendition="#g">Strafe</hi>: Zuchthaus.</p><lb/><p>2. <hirendition="#g">Kinderraub</hi> (StGB. §. 235) begangen dadurch,<lb/>
daß eine <hirendition="#g">minderjährige Perſon</hi> ihren Eltern oder ihrem<lb/>
Vormund durch Gewalt, Drohung, Liſt entzogen wird. An-<lb/>
gegriffen iſt die perſönliche Freiheit des Minderjährigen;<lb/>
aber die Dispoſitionsbefugnis über dieſes Rechtsgut ſteht<lb/>
nicht ihm, ſondern den Eltern oder dem Vormunde zu.<lb/>
Darum ſchließt die Einwilligung der letztgenannten Perſonen<lb/>
die Normwidrigkeit des Thuns aus, während die des Min-<lb/>
derjährigen ſelbſt irrelevant iſt. <hirendition="#g">Vollendet</hi> iſt das Delikt,<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[254/0280]
Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.
III. Die qualifizierte totale Entziehung der per-
ſönlichen Freiheit oder der Menſchenraub. Das qualifi-
zierende Moment liegt darin, daß der Thäter, nicht zufrie-
den damit, dem Verletzten den Gebrauch ſeiner perſönlichen
Freiheit entzogen zu haben, ſich eine poſitive und unmittel-
bare Herrſchaft, eine Verfügungsgewalt über denſelben
anmaßt. Es gehören hierher:
1. Der eigentliche Menſchenraub (StGB. §. 234);
Objekt: jeder Menſch; die Erlangung der Herrſchaft
(„Bemächtigung“ ſagt das Geſetz) muß erfolgen durch a) Ge-
walt (vgl. oben §. 63 I 1a); b) Drohung (vgl. oben
§. 63 I 1b), die aber hier nicht Drohung mit einem Ver-
brechen oder Vergehen zu ſein braucht; c) Liſt, d. i. Täu-
ſchung des zu Verletzenden über die Kauſalität der von ihm
vorzunehmenden Handlung. Die Abſicht (hier gleich er-
weiterter Vorſatz oben §. 28 III) muß darauf gerichtet ſein,
den Angegriffenen in hülfloſer Lage auszuſetzen oder in
Sklaverei, Leibeigenſchaft oder in auswärtige Kriegs- oder
Schiffsdienſte zu bringen. Das Verbrechen iſt vollendet
mit der (poſitiven) Erlangung der Herrſchaft; der Verſuch
beginnt mit dem (negativen) Eingriff in die perſönliche Frei-
heit. Strafe: Zuchthaus.
2. Kinderraub (StGB. §. 235) begangen dadurch,
daß eine minderjährige Perſon ihren Eltern oder ihrem
Vormund durch Gewalt, Drohung, Liſt entzogen wird. An-
gegriffen iſt die perſönliche Freiheit des Minderjährigen;
aber die Dispoſitionsbefugnis über dieſes Rechtsgut ſteht
nicht ihm, ſondern den Eltern oder dem Vormunde zu.
Darum ſchließt die Einwilligung der letztgenannten Perſonen
die Normwidrigkeit des Thuns aus, während die des Min-
derjährigen ſelbſt irrelevant iſt. Vollendet iſt das Delikt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/280>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.