Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

Erst. Buch. IV. Das Verbr. als schuldh. rechtswidr. Handl.
Zurechnungsfähigkeit. Gegen die Bejahung der aufgeworfenen
Frage spricht die Weite der Strafrahmen der deutschen
Strafgesetze, insbesondere ihr äußerst geringes Minimum;
für dieselbe aber die auf diesem Felde noch weit verbreitete
und tiefgewurzelte Verwirrtheit, welche eine gesetzliche Regelung
der Frage dringend wünschenswert macht. In einem Falle
-- bezüglich der jugendlichen Thäter (StGB. §. 57) --
hat übrigens das StGB. selbst der "verminderten" Zurech-
nungsfähigkeit Rechnung getragen.

IV. Die Zurechnungsfähigkeit ist Voraussetzung der Schuld.
Sie muß, wie alle relevanten Umstände, von Amtswegen
festgestellt werden. Ausdrücklicher Feststellung im Urteile
bedarf es jedoch nur dann (StPO. §. 266), wenn ihr Vor-
handensein im Laufe der Verhandlung bestritten worden war.
Eine Ausnahme von dieser Regel tritt nur ein, wenn es sich
um einen jugendlichen oder taubstummen Thäter handelt:
hier muß -- eventuell durch eine an die Geschworenen ge-
richtete Nebenfrage -- in allen Fällen positiv festgestellt
werden, ob der Thäter bei Begehung der That die zur Er-
kenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen
habe.8

V. Die Zurechnungsfähigkeit muß bei Begehung der
That vorhanden gewesen sein. Später eintretende Zurech-
nungsunfähigkeit kann nur prozessuale Folgen nach sich
ziehen. Maßgebend ist dabei (vgl. oben §. 19 III 1) jener
Augenblick, in welchem die den Naturkausalismus in Bewe-
gung setzende körperliche Bewegung selbst vorgenommen
wurde; irrelevant der Geisteszustand des Thäters in dem
Augenblicke, in welchem der Kausalismus das angegriffene

8 Eigentümliche Ansicht bei Meyer S. 143 f.

Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Zurechnungsfähigkeit. Gegen die Bejahung der aufgeworfenen
Frage ſpricht die Weite der Strafrahmen der deutſchen
Strafgeſetze, insbeſondere ihr äußerſt geringes Minimum;
für dieſelbe aber die auf dieſem Felde noch weit verbreitete
und tiefgewurzelte Verwirrtheit, welche eine geſetzliche Regelung
der Frage dringend wünſchenswert macht. In einem Falle
— bezüglich der jugendlichen Thäter (StGB. §. 57) —
hat übrigens das StGB. ſelbſt der „verminderten“ Zurech-
nungsfähigkeit Rechnung getragen.

IV. Die Zurechnungsfähigkeit iſt Vorausſetzung der Schuld.
Sie muß, wie alle relevanten Umſtände, von Amtswegen
feſtgeſtellt werden. Ausdrücklicher Feſtſtellung im Urteile
bedarf es jedoch nur dann (StPO. §. 266), wenn ihr Vor-
handenſein im Laufe der Verhandlung beſtritten worden war.
Eine Ausnahme von dieſer Regel tritt nur ein, wenn es ſich
um einen jugendlichen oder taubſtummen Thäter handelt:
hier muß — eventuell durch eine an die Geſchworenen ge-
richtete Nebenfrage — in allen Fällen poſitiv feſtgeſtellt
werden, ob der Thäter bei Begehung der That die zur Er-
kenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einſicht beſeſſen
habe.8

V. Die Zurechnungsfähigkeit muß bei Begehung der
That vorhanden geweſen ſein. Später eintretende Zurech-
nungsunfähigkeit kann nur prozeſſuale Folgen nach ſich
ziehen. Maßgebend iſt dabei (vgl. oben §. 19 III 1) jener
Augenblick, in welchem die den Naturkauſalismus in Bewe-
gung ſetzende körperliche Bewegung ſelbſt vorgenommen
wurde; irrelevant der Geiſteszuſtand des Thäters in dem
Augenblicke, in welchem der Kauſalismus das angegriffene

8 Eigentümliche Anſicht bei Meyer S. 143 f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0124" n="98"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;t. Buch. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Das Verbr. als &#x017F;chuldh. rechtswidr. Handl.</fw><lb/>
Zurechnungsfähigkeit. <hi rendition="#g">Gegen</hi> die Bejahung der aufgeworfenen<lb/>
Frage &#x017F;pricht die Weite der Strafrahmen der deut&#x017F;chen<lb/>
Strafge&#x017F;etze, insbe&#x017F;ondere ihr äußer&#x017F;t geringes Minimum;<lb/><hi rendition="#g">für</hi> die&#x017F;elbe aber die auf die&#x017F;em Felde noch weit verbreitete<lb/>
und tiefgewurzelte Verwirrtheit, welche eine ge&#x017F;etzliche Regelung<lb/>
der Frage dringend wün&#x017F;chenswert macht. In <hi rendition="#g">einem</hi> Falle<lb/>
&#x2014; bezüglich der <hi rendition="#g">jugendlichen</hi> Thäter (StGB. §. 57) &#x2014;<lb/>
hat übrigens das StGB. &#x017F;elb&#x017F;t der &#x201E;verminderten&#x201C; Zurech-<lb/>
nungsfähigkeit Rechnung getragen.</p><lb/>
                <p><hi rendition="#aq">IV.</hi> Die Zurechnungsfähigkeit i&#x017F;t Voraus&#x017F;etzung der Schuld.<lb/>
Sie muß, wie alle relevanten Um&#x017F;tände, <hi rendition="#g">von Amtswegen</hi><lb/>
fe&#x017F;tge&#x017F;tellt werden. <hi rendition="#g">Ausdrücklicher</hi> Fe&#x017F;t&#x017F;tellung im Urteile<lb/>
bedarf es jedoch nur dann (StPO. §. 266), wenn ihr Vor-<lb/>
handen&#x017F;ein im Laufe der Verhandlung be&#x017F;tritten worden war.<lb/>
Eine Ausnahme von die&#x017F;er Regel tritt nur ein, wenn es &#x017F;ich<lb/>
um einen jugendlichen oder taub&#x017F;tummen Thäter handelt:<lb/>
hier <hi rendition="#g">muß</hi> &#x2014; eventuell durch eine an die Ge&#x017F;chworenen ge-<lb/>
richtete Nebenfrage &#x2014; in allen Fällen po&#x017F;itiv fe&#x017F;tge&#x017F;tellt<lb/>
werden, ob der Thäter bei Begehung der That die zur Er-<lb/>
kenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Ein&#x017F;icht be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en<lb/>
habe.<note place="foot" n="8">Eigentümliche An&#x017F;icht bei <hi rendition="#g">Meyer</hi> S. 143 f.</note></p><lb/>
                <p><hi rendition="#aq">V.</hi> Die Zurechnungsfähigkeit muß <hi rendition="#g">bei Begehung</hi> der<lb/>
That vorhanden gewe&#x017F;en &#x017F;ein. Später eintretende Zurech-<lb/>
nungsunfähigkeit kann nur <hi rendition="#g">proze&#x017F;&#x017F;uale</hi> Folgen nach &#x017F;ich<lb/>
ziehen. Maßgebend i&#x017F;t dabei (vgl. oben §. 19 <hi rendition="#aq">III</hi> 1) jener<lb/>
Augenblick, in welchem die den Naturkau&#x017F;alismus in Bewe-<lb/>
gung &#x017F;etzende <hi rendition="#g">körperliche Bewegung</hi> &#x017F;elb&#x017F;t vorgenommen<lb/>
wurde; irrelevant der Gei&#x017F;teszu&#x017F;tand des Thäters in dem<lb/>
Augenblicke, in welchem der Kau&#x017F;alismus das angegriffene<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0124] Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl. Zurechnungsfähigkeit. Gegen die Bejahung der aufgeworfenen Frage ſpricht die Weite der Strafrahmen der deutſchen Strafgeſetze, insbeſondere ihr äußerſt geringes Minimum; für dieſelbe aber die auf dieſem Felde noch weit verbreitete und tiefgewurzelte Verwirrtheit, welche eine geſetzliche Regelung der Frage dringend wünſchenswert macht. In einem Falle — bezüglich der jugendlichen Thäter (StGB. §. 57) — hat übrigens das StGB. ſelbſt der „verminderten“ Zurech- nungsfähigkeit Rechnung getragen. IV. Die Zurechnungsfähigkeit iſt Vorausſetzung der Schuld. Sie muß, wie alle relevanten Umſtände, von Amtswegen feſtgeſtellt werden. Ausdrücklicher Feſtſtellung im Urteile bedarf es jedoch nur dann (StPO. §. 266), wenn ihr Vor- handenſein im Laufe der Verhandlung beſtritten worden war. Eine Ausnahme von dieſer Regel tritt nur ein, wenn es ſich um einen jugendlichen oder taubſtummen Thäter handelt: hier muß — eventuell durch eine an die Geſchworenen ge- richtete Nebenfrage — in allen Fällen poſitiv feſtgeſtellt werden, ob der Thäter bei Begehung der That die zur Er- kenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einſicht beſeſſen habe. 8 V. Die Zurechnungsfähigkeit muß bei Begehung der That vorhanden geweſen ſein. Später eintretende Zurech- nungsunfähigkeit kann nur prozeſſuale Folgen nach ſich ziehen. Maßgebend iſt dabei (vgl. oben §. 19 III 1) jener Augenblick, in welchem die den Naturkauſalismus in Bewe- gung ſetzende körperliche Bewegung ſelbſt vorgenommen wurde; irrelevant der Geiſteszuſtand des Thäters in dem Augenblicke, in welchem der Kauſalismus das angegriffene 8 Eigentümliche Anſicht bei Meyer S. 143 f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/124
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/124>, abgerufen am 25.11.2024.