rektur; wenn sie aber Handlungen sind, warum spricht man von Unterlassungen? --
Man könnte versucht sein, die Unterlassungen als nega- tive rein psychische Handlungen aufzufassen: die bewußte und durch Vorstellungen bestimmte Nicht-Erregung der motorischen Nerven. Auch der Entschluß, nicht zu handeln ist ja ein psychischer Akt.2 Aber abgesehen davon, daß wir damit den nicht in Bewegung umgesetzten Gedanken, (denn mehr als eine Vorstellung, deren Sieg entschieden, ist der "Entschluß" nicht) zum Verbrechen stempeln, scheitert dieser Versuch an der nicht wegzuleugnenden Thatsache der fahrlässigen Unterlassungsdelikte, bei welchen ein solcher Entschluß nicht vorliegt.
Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter- lassung vorangehende positive Thätigkeit legen, wie Krug, Glaser, Merkel das gethan; damit rettet man den Be- griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlassung völlig, und gerät in weitaus den meisten praktischen Fällen mit dem obersten Grundsatze der Schuldlehre: "die Schuld muß im Augenblicke der Verursachung vorhanden sein" -- in unlösbaren Widerspruch.
II. Es ist ein anderer Weg noch möglich, der nur darum von den Meisten übersehen wird, weil er so nahe liegt. Unterlassen heißt nicht Nichtsthun, sondern: Etwasnicht thun; das nicht thun, was erwartet, was gesollt wurde. Unterlassung ist Nichtthätigkeit mit Rücksicht auf ein ganz be- stimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, son-
2[Spaltenumbruch]
Im Grunde genommen ist die Binding'sche Konstruktion der sog. unechten Unterlassungs-[Spaltenumbruch]
delikte auf diesen Gedanken zurückzuführen.
Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
rektur; wenn ſie aber Handlungen ſind, warum ſpricht man von Unterlaſſungen? —
Man könnte verſucht ſein, die Unterlaſſungen als nega- tive rein pſychiſche Handlungen aufzufaſſen: die bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Nicht-Erregung der motoriſchen Nerven. Auch der Entſchluß, nicht zu handeln iſt ja ein pſychiſcher Akt.2 Aber abgeſehen davon, daß wir damit den nicht in Bewegung umgeſetzten Gedanken, (denn mehr als eine Vorſtellung, deren Sieg entſchieden, iſt der „Entſchluß“ nicht) zum Verbrechen ſtempeln, ſcheitert dieſer Verſuch an der nicht wegzuleugnenden Thatſache der fahrläſſigen Unterlaſſungsdelikte, bei welchen ein ſolcher Entſchluß nicht vorliegt.
Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter- laſſung vorangehende poſitive Thätigkeit legen, wie Krug, Glaſer, Merkel das gethan; damit rettet man den Be- griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlaſſung völlig, und gerät in weitaus den meiſten praktiſchen Fällen mit dem oberſten Grundſatze der Schuldlehre: „die Schuld muß im Augenblicke der Verurſachung vorhanden ſein“ — in unlösbaren Widerſpruch.
II. Es iſt ein anderer Weg noch möglich, der nur darum von den Meiſten überſehen wird, weil er ſo nahe liegt. Unterlaſſen heißt nicht Nichtsthun, ſondern: Etwasnicht thun; das nicht thun, was erwartet, was geſollt wurde. Unterlaſſung iſt Nichtthätigkeit mit Rückſicht auf ein ganz be- ſtimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, ſon-
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Im Grunde genommen iſt die Binding’ſche Konſtruktion der ſog. unechten Unterlaſſungs-[Spaltenumbruch]
delikte auf dieſen Gedanken zurückzuführen.
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Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
rektur; wenn ſie aber Handlungen ſind, warum ſpricht man
von Unterlaſſungen? —
Man könnte verſucht ſein, die Unterlaſſungen als nega-
tive rein pſychiſche Handlungen aufzufaſſen: die bewußte und
durch Vorſtellungen beſtimmte Nicht-Erregung der motoriſchen
Nerven. Auch der Entſchluß, nicht zu handeln iſt ja ein
pſychiſcher Akt. 2 Aber abgeſehen davon, daß wir damit den
nicht in Bewegung umgeſetzten Gedanken, (denn mehr als
eine Vorſtellung, deren Sieg entſchieden, iſt der „Entſchluß“
nicht) zum Verbrechen ſtempeln, ſcheitert dieſer Verſuch an
der nicht wegzuleugnenden Thatſache der fahrläſſigen
Unterlaſſungsdelikte, bei welchen ein ſolcher Entſchluß nicht
vorliegt.
Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter-
laſſung vorangehende poſitive Thätigkeit legen, wie Krug,
Glaſer, Merkel das gethan; damit rettet man den Be-
griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlaſſung völlig,
und gerät in weitaus den meiſten praktiſchen Fällen mit
dem oberſten Grundſatze der Schuldlehre: „die Schuld muß
im Augenblicke der Verurſachung vorhanden ſein“ — in
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II. Es iſt ein anderer Weg noch möglich, der nur darum
von den Meiſten überſehen wird, weil er ſo nahe liegt.
Unterlaſſen heißt nicht Nichtsthun, ſondern: Etwas nicht
thun; das nicht thun, was erwartet, was geſollt wurde.
Unterlaſſung iſt Nichtthätigkeit mit Rückſicht auf ein ganz be-
ſtimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, ſon-
2
Im Grunde genommen iſt
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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/106>, abgerufen am 16.02.2025.
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