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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
Vernunft, und den thörigten Begierden des Men-
schen einen Streit des Fleisches und des Geistes (lu-
ctam carnis & spiritus
) nennet. Diese Redens-
Art ist den Gottesgelehrten eigen, und ich möchte die-
selbe nicht so entheiligen. Derjenige Streit, von wel-
chem der Hr. Manzel redet, heisset, wie bekannt, pug-
na rationis & appetitus sensitivi.

II. Daß dieser Streit, den wir in uns spüren, er
mag nun heissen wie er will, wohl beweise, daß wir
unvollkommen und unglücklich sind; indem wir Be-
gierden haben, die dem Verlangen, so wir überhaupt
haben, lange und glücklich zu leben, gerade entgegen
laufen: Aber daß noch nicht daraus folge, der erste
Mensch sey anders beschafen gewesen. Und diese mei-
ne Anmerckung muß um so viel eher gelten, weil ich
schon gewiesen habe, daß, da das Wesen einer Creatur
erfordert, daß sie unvollkommen sey, die Unvollkom-
menheit, die wir ietzo an uns haben, uns nicht Recht
gebe, zu schliessen, wir wären vor diesen anders ge-
macht gewesen.

III. Daß es wenig zur Sache thut, ob die Heyden
diesen Streit gefühlet, und einem bösen principio zu-
geschrieben, oder nicht. Jch weiß wohl, daß einige
das Verderben der menschlichen Natur, als die
Strafe eines, in einer andern Welt begangenen, Ver-
brechens angesehen: Allein dieses beweiset noch nicht,
daß also würcklich eine gewaltsame Veränderung in
der Natur des Menschen vorgegangen sey.

Die Heiden bemüheten sich, den Ursprung der Un-
vollkommenheit und des Bösen in dem Menschen zu
erklären, und erdichteten, zu dem Ende, eben wie der
Hr. Manzel, einen Stand der Unschuld, nach ihrer

Art.
S s 5

(o)
Vernunft, und den thoͤrigten Begierden des Men-
ſchen einen Streit des Fleiſches und des Geiſtes (lu-
ctam carnis & ſpiritus
) nennet. Dieſe Redens-
Art iſt den Gottesgelehrten eigen, und ich moͤchte die-
ſelbe nicht ſo entheiligen. Derjenige Streit, von wel-
chem der Hr. Manzel redet, heiſſet, wie bekannt, pug-
na rationis & appetitus ſenſitivi.

II. Daß dieſer Streit, den wir in uns ſpuͤren, er
mag nun heiſſen wie er will, wohl beweiſe, daß wir
unvollkommen und ungluͤcklich ſind; indem wir Be-
gierden haben, die dem Verlangen, ſo wir uͤberhaupt
haben, lange und gluͤcklich zu leben, gerade entgegen
laufen: Aber daß noch nicht daraus folge, der erſte
Menſch ſey anders beſchafen geweſen. Und dieſe mei-
ne Anmerckung muß um ſo viel eher gelten, weil ich
ſchon gewieſen habe, daß, da das Weſen einer Creatur
erfordert, daß ſie unvollkommen ſey, die Unvollkom-
menheit, die wir ietzo an uns haben, uns nicht Recht
gebe, zu ſchlieſſen, wir waͤren vor dieſen anders ge-
macht geweſen.

III. Daß es wenig zur Sache thut, ob die Heyden
dieſen Streit gefuͤhlet, und einem boͤſen principio zu-
geſchrieben, oder nicht. Jch weiß wohl, daß einige
das Verderben der menſchlichen Natur, als die
Strafe eines, in einer andern Welt begangenen, Ver-
brechens angeſehen: Allein dieſes beweiſet noch nicht,
daß alſo wuͤrcklich eine gewaltſame Veraͤnderung in
der Natur des Menſchen vorgegangen ſey.

Die Heiden bemuͤheten ſich, den Urſprung der Un-
vollkommenheit und des Boͤſen in dem Menſchen zu
erklaͤren, und erdichteten, zu dem Ende, eben wie der
Hr. Manzel, einen Stand der Unſchuld, nach ihrer

Art.
S s 5
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[649/0741] (o) Vernunft, und den thoͤrigten Begierden des Men- ſchen einen Streit des Fleiſches und des Geiſtes (lu- ctam carnis & ſpiritus) nennet. Dieſe Redens- Art iſt den Gottesgelehrten eigen, und ich moͤchte die- ſelbe nicht ſo entheiligen. Derjenige Streit, von wel- chem der Hr. Manzel redet, heiſſet, wie bekannt, pug- na rationis & appetitus ſenſitivi. II. Daß dieſer Streit, den wir in uns ſpuͤren, er mag nun heiſſen wie er will, wohl beweiſe, daß wir unvollkommen und ungluͤcklich ſind; indem wir Be- gierden haben, die dem Verlangen, ſo wir uͤberhaupt haben, lange und gluͤcklich zu leben, gerade entgegen laufen: Aber daß noch nicht daraus folge, der erſte Menſch ſey anders beſchafen geweſen. Und dieſe mei- ne Anmerckung muß um ſo viel eher gelten, weil ich ſchon gewieſen habe, daß, da das Weſen einer Creatur erfordert, daß ſie unvollkommen ſey, die Unvollkom- menheit, die wir ietzo an uns haben, uns nicht Recht gebe, zu ſchlieſſen, wir waͤren vor dieſen anders ge- macht geweſen. III. Daß es wenig zur Sache thut, ob die Heyden dieſen Streit gefuͤhlet, und einem boͤſen principio zu- geſchrieben, oder nicht. Jch weiß wohl, daß einige das Verderben der menſchlichen Natur, als die Strafe eines, in einer andern Welt begangenen, Ver- brechens angeſehen: Allein dieſes beweiſet noch nicht, daß alſo wuͤrcklich eine gewaltſame Veraͤnderung in der Natur des Menſchen vorgegangen ſey. Die Heiden bemuͤheten ſich, den Urſprung der Un- vollkommenheit und des Boͤſen in dem Menſchen zu erklaͤren, und erdichteten, zu dem Ende, eben wie der Hr. Manzel, einen Stand der Unſchuld, nach ihrer Art. S s 5

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 649. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/741>, abgerufen am 22.11.2024.