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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
wie diesen Nachkommen des ersten Menschen die an-
gebohrne Unart, als ein Verbrechen, könne zugerech-
net werden. Es ist nicht unsere Schuld, daß wir böse
gebohren werden, und folglich, wegen unserer ange-
bohrnen Schwachheit, die Gesetze nicht halten kön-
nen, welche dem ersten Menschen gegeben worden,
der in vollkommener Gerechtigkeit und Heiligkeit
erschafen war. Wer uns darum strafet, der begehet
eine Ungerechtigkeit, und die wird gar schlecht bemän-
telt, wenn man spricht: Wir hätten die Kräfte ge-
habt, denen Gesetzen, welche uns gegeben worden, die
gebührende Folge zu leisten; wir hätten aber diese
Kräfte durch unser eigen Versehen verschertzet. Denn
nicht der Hr. Prof. Manzel und ich, oder sonst irgend
einer von allen ietzo lebenden Menschen, haben vom
verbotenen Baum gegessen. Warum sollen wir dann
die unordentliche Lust unserer ersten Eltern büssen?
Womit haben wir verdienet, daß uns durch unmög-
lich zu haltende Gesetze eine Last aufgelegt wird, die
uns zu schwer ist? GOtt hätte unsere erste Eltern nach
Belieben, wegen Uebertretung der Gesetze, welche sie,
durch ihr Versehen, nicht halten konnten, züchtigen
können: Uns aber muß er, falls er will, daß wir ihm
gehorchen sollen, Gesetze geben, die mit dem Zustan-
de übereinkommen, in welchem wir uns ietzo befin-
den, und die wir vermögend sind zu halten. Unmögli-
che Dinge muß er nicht von uns fordern, sonst dencken
wir von ihm, was wir von einem Menschen dencken
würden, der einen Lahmen mit Schlägen zwingen
wolte, ein Menut zu tantzen, unter dem Vor-
wande, der Ur-Elter-Vater dieses Krüppels sey
ein geschickter Täntzer gewesen; habe sich aber,

durch
Ss 4

(o)
wie dieſen Nachkommen des erſten Menſchen die an-
gebohrne Unart, als ein Verbrechen, koͤnne zugerech-
net werden. Es iſt nicht unſere Schuld, daß wir boͤſe
gebohren werden, und folglich, wegen unſerer ange-
bohrnen Schwachheit, die Geſetze nicht halten koͤn-
nen, welche dem erſten Menſchen gegeben worden,
der in vollkommener Gerechtigkeit und Heiligkeit
erſchafen war. Wer uns darum ſtrafet, der begehet
eine Ungerechtigkeit, und die wird gar ſchlecht bemaͤn-
telt, wenn man ſpricht: Wir haͤtten die Kraͤfte ge-
habt, denen Geſetzen, welche uns gegeben worden, die
gebuͤhrende Folge zu leiſten; wir haͤtten aber dieſe
Kraͤfte durch unſer eigen Verſehen verſchertzet. Denn
nicht der Hr. Prof. Manzel und ich, oder ſonſt irgend
einer von allen ietzo lebenden Menſchen, haben vom
verbotenen Baum gegeſſen. Warum ſollen wir dann
die unordentliche Luſt unſerer erſten Eltern buͤſſen?
Womit haben wir verdienet, daß uns durch unmoͤg-
lich zu haltende Geſetze eine Laſt aufgelegt wird, die
uns zu ſchwer iſt? GOtt haͤtte unſere erſte Eltern nach
Belieben, wegen Uebertretung der Geſetze, welche ſie,
durch ihr Verſehen, nicht halten konnten, zuͤchtigen
koͤnnen: Uns aber muß er, falls er will, daß wir ihm
gehorchen ſollen, Geſetze geben, die mit dem Zuſtan-
de uͤbereinkommen, in welchem wir uns ietzo befin-
den, und die wir vermoͤgend ſind zu halten. Unmoͤgli-
che Dinge muß er nicht von uns fordern, ſonſt dencken
wir von ihm, was wir von einem Menſchen dencken
wuͤrden, der einen Lahmen mit Schlaͤgen zwingen
wolte, ein Menut zu tantzen, unter dem Vor-
wande, der Ur-Elter-Vater dieſes Kruͤppels ſey
ein geſchickter Taͤntzer geweſen; habe ſich aber,

durch
Ss 4
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[647/0739] (o) wie dieſen Nachkommen des erſten Menſchen die an- gebohrne Unart, als ein Verbrechen, koͤnne zugerech- net werden. Es iſt nicht unſere Schuld, daß wir boͤſe gebohren werden, und folglich, wegen unſerer ange- bohrnen Schwachheit, die Geſetze nicht halten koͤn- nen, welche dem erſten Menſchen gegeben worden, der in vollkommener Gerechtigkeit und Heiligkeit erſchafen war. Wer uns darum ſtrafet, der begehet eine Ungerechtigkeit, und die wird gar ſchlecht bemaͤn- telt, wenn man ſpricht: Wir haͤtten die Kraͤfte ge- habt, denen Geſetzen, welche uns gegeben worden, die gebuͤhrende Folge zu leiſten; wir haͤtten aber dieſe Kraͤfte durch unſer eigen Verſehen verſchertzet. Denn nicht der Hr. Prof. Manzel und ich, oder ſonſt irgend einer von allen ietzo lebenden Menſchen, haben vom verbotenen Baum gegeſſen. Warum ſollen wir dann die unordentliche Luſt unſerer erſten Eltern buͤſſen? Womit haben wir verdienet, daß uns durch unmoͤg- lich zu haltende Geſetze eine Laſt aufgelegt wird, die uns zu ſchwer iſt? GOtt haͤtte unſere erſte Eltern nach Belieben, wegen Uebertretung der Geſetze, welche ſie, durch ihr Verſehen, nicht halten konnten, zuͤchtigen koͤnnen: Uns aber muß er, falls er will, daß wir ihm gehorchen ſollen, Geſetze geben, die mit dem Zuſtan- de uͤbereinkommen, in welchem wir uns ietzo befin- den, und die wir vermoͤgend ſind zu halten. Unmoͤgli- che Dinge muß er nicht von uns fordern, ſonſt dencken wir von ihm, was wir von einem Menſchen dencken wuͤrden, der einen Lahmen mit Schlaͤgen zwingen wolte, ein Menut zu tantzen, unter dem Vor- wande, der Ur-Elter-Vater dieſes Kruͤppels ſey ein geſchickter Taͤntzer geweſen; habe ſich aber, durch Ss 4

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/739>, abgerufen am 22.11.2024.