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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
Die Gesetze der Natur schicken sich also gar wohl zu
unserer Unvollkommenheit, und es ist nicht nöthig,
zu sagen, wir wären zu der Zeit, als sie uns gegeben
sind, höchst weise und vollkommen gewesen.

Aber hat also GOtt nicht tyrannisch mit uns ge-
handelt, daß er uns Gesetze gegeben, die unsern Nei-
gungen so sehr entgegen sind, daß es uns schwer, ja
fast unmöglich fällt, dieselbe zu halten?

Dieses ist der Scrupel, den sich der Hr. Prof. Man-
zel macht, und der ihn bewogen hat, um GOTT
von den Verdacht einer Grausamkeit zu befreyen, den
Schluß zu machen, der Mensch müsse sich zu der Zeit,
als GOtt die Gesetze der Natur gegeben, in einem bes-
sern und vollkommenern Zustande, als ietzo, befunden
haben. Allein dieser Scrupel wird sich bald verlieh-
ren, wenn man nur die Gesetze der Natur ein wenig
genauer ansiehet.

Es ist gewiß, wenn die Gesetze der Natur will-
kührliche Verordnungen wären, kraft welcher GOtt
dem Menschen an sich gleichgültige, und zum wah-
ren Wohlseyn der Menschen nichts beytragende
Dinge verböte und beföhle, so wäre es freylich eine
Art einer Tyranney, mit denselben eine Creatur zu
beschweren, die entweder gar nicht, oder doch we-
nigstens nicht ohne grosse Schwierigkeit, dieselbe
zu halten vermögend ist. Allein so sind die Gesetze
der Natur nicht beschafen. Es bestehen dieselbe
nicht in willkührlichen Verordnungen, auf deren
Uebertretung willkührliche, und nicht aus den Thaten
der Menschen selbst fliessende Strafen gesetzet sind.
Sie sind nichts, als eine Einsicht in die Folgen unserer
Handlungen, und sind uns nicht gegeben, weil wir

voll-

(o)
Die Geſetze der Natur ſchicken ſich alſo gar wohl zu
unſerer Unvollkommenheit, und es iſt nicht noͤthig,
zu ſagen, wir waͤren zu der Zeit, als ſie uns gegeben
ſind, hoͤchſt weiſe und vollkommen geweſen.

Aber hat alſo GOtt nicht tyranniſch mit uns ge-
handelt, daß er uns Geſetze gegeben, die unſern Nei-
gungen ſo ſehr entgegen ſind, daß es uns ſchwer, ja
faſt unmoͤglich faͤllt, dieſelbe zu halten?

Dieſes iſt der Scrupel, den ſich der Hr. Prof. Man-
zel macht, und der ihn bewogen hat, um GOTT
von den Verdacht einer Grauſamkeit zu befreyen, den
Schluß zu machen, der Menſch muͤſſe ſich zu der Zeit,
als GOtt die Geſetze der Natur gegeben, in einem beſ-
ſern und vollkommenern Zuſtande, als ietzo, befunden
haben. Allein dieſer Scrupel wird ſich bald verlieh-
ren, wenn man nur die Geſetze der Natur ein wenig
genauer anſiehet.

Es iſt gewiß, wenn die Geſetze der Natur will-
kuͤhrliche Verordnungen waͤren, kraft welcher GOtt
dem Menſchen an ſich gleichguͤltige, und zum wah-
ren Wohlſeyn der Menſchen nichts beytragende
Dinge verboͤte und befoͤhle, ſo waͤre es freylich eine
Art einer Tyranney, mit denſelben eine Creatur zu
beſchweren, die entweder gar nicht, oder doch we-
nigſtens nicht ohne groſſe Schwierigkeit, dieſelbe
zu halten vermoͤgend iſt. Allein ſo ſind die Geſetze
der Natur nicht beſchafen. Es beſtehen dieſelbe
nicht in willkuͤhrlichen Verordnungen, auf deren
Uebertretung willkuͤhrliche, und nicht aus den Thaten
der Menſchen ſelbſt flieſſende Strafen geſetzet ſind.
Sie ſind nichts, als eine Einſicht in die Folgen unſerer
Handlungen, und ſind uns nicht gegeben, weil wir

voll-
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[644/0736] (o) Die Geſetze der Natur ſchicken ſich alſo gar wohl zu unſerer Unvollkommenheit, und es iſt nicht noͤthig, zu ſagen, wir waͤren zu der Zeit, als ſie uns gegeben ſind, hoͤchſt weiſe und vollkommen geweſen. Aber hat alſo GOtt nicht tyranniſch mit uns ge- handelt, daß er uns Geſetze gegeben, die unſern Nei- gungen ſo ſehr entgegen ſind, daß es uns ſchwer, ja faſt unmoͤglich faͤllt, dieſelbe zu halten? Dieſes iſt der Scrupel, den ſich der Hr. Prof. Man- zel macht, und der ihn bewogen hat, um GOTT von den Verdacht einer Grauſamkeit zu befreyen, den Schluß zu machen, der Menſch muͤſſe ſich zu der Zeit, als GOtt die Geſetze der Natur gegeben, in einem beſ- ſern und vollkommenern Zuſtande, als ietzo, befunden haben. Allein dieſer Scrupel wird ſich bald verlieh- ren, wenn man nur die Geſetze der Natur ein wenig genauer anſiehet. Es iſt gewiß, wenn die Geſetze der Natur will- kuͤhrliche Verordnungen waͤren, kraft welcher GOtt dem Menſchen an ſich gleichguͤltige, und zum wah- ren Wohlſeyn der Menſchen nichts beytragende Dinge verboͤte und befoͤhle, ſo waͤre es freylich eine Art einer Tyranney, mit denſelben eine Creatur zu beſchweren, die entweder gar nicht, oder doch we- nigſtens nicht ohne groſſe Schwierigkeit, dieſelbe zu halten vermoͤgend iſt. Allein ſo ſind die Geſetze der Natur nicht beſchafen. Es beſtehen dieſelbe nicht in willkuͤhrlichen Verordnungen, auf deren Uebertretung willkuͤhrliche, und nicht aus den Thaten der Menſchen ſelbſt flieſſende Strafen geſetzet ſind. Sie ſind nichts, als eine Einſicht in die Folgen unſerer Handlungen, und ſind uns nicht gegeben, weil wir voll-

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/736>, abgerufen am 22.11.2024.