wohl nicht leicht sagen wird, daß dieser grosse Welt- weise aus einer Massa praeservata entsprossen, so bleibt es wohl gewiß, daß dasjenige, was dem Socrates möglich gewesen ist, andern auch nicht schlechter- dings unmöglich sey. Werden demnach gleich die natürlichen Gesetze nicht von allen Menschen aufs genaueste beobachtet; so kan uns dieses doch nicht bewegen, zu schliessen, wir wären nicht in dem Stan- de, in welchem wir waren, als die Gesetze entstun- den, das ist, als wir erschafen wurden. Genug, daß wir sie halten können, wenn wir nur wollen.
Will aber der Herr Prof. Mantzel den fast allge- meinen Mangel dieses Willens als eine Unvollkom- menheit anfehen, die, wenn sie sich bey dem ersten Menschen gefunden hätte, GOtt würde abgehalten haben, die Gesetze der Natur zu geben, und daher den Schluß machen, daß der erste Mensch von derselben frey gewesen sey, und eine beständige Neigung zum Guten gehabt habe: So muß er wissen, daß dieses sehr übel geschlossen sey. Die gesunde Vernunft stim- met nicht damit überein. Die sagt, daß die Gesetze ein Zeichen unserer Unvollkommenheit sind, und daß dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, weil er freywil- lig thut, was recht ist: Und dieses letzte bekräftiget auch die Schrift. Mich deucht also, GOtt würde uns niemahlen gewisse Gesetze vorgeschrieben haben, wenn wir so heilige, unschuldige, und vollkommene Creaturen gewesen wären, als der Herr Mantzel aus den ersten Menschen machen will. Wo zu sollen einer Creatur, die höchst vollkommen ist, ihren wahren Nutzen völlig erkennet, nicht die geringste Begierde hat nach solchen Dingen, die ihrem Nutzen entgegen
sind,
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wohl nicht leicht ſagen wird, daß dieſer groſſe Welt- weiſe aus einer Maſſa præſervata entſproſſen, ſo bleibt es wohl gewiß, daß dasjenige, was dem Socrates moͤglich geweſen iſt, andern auch nicht ſchlechter- dings unmoͤglich ſey. Werden demnach gleich die natuͤrlichen Geſetze nicht von allen Menſchen aufs genaueſte beobachtet; ſo kan uns dieſes doch nicht bewegen, zu ſchlieſſen, wir waͤren nicht in dem Stan- de, in welchem wir waren, als die Geſetze entſtun- den, das iſt, als wir erſchafen wurden. Genug, daß wir ſie halten koͤnnen, wenn wir nur wollen.
Will aber der Herr Prof. Mantzel den faſt allge- meinen Mangel dieſes Willens als eine Unvollkom- menheit anfehen, die, wenn ſie ſich bey dem erſten Menſchen gefunden haͤtte, GOtt wuͤrde abgehalten haben, die Geſetze der Natur zu geben, und daher den Schluß machen, daß der erſte Menſch von derſelben frey geweſen ſey, und eine beſtaͤndige Neigung zum Guten gehabt habe: So muß er wiſſen, daß dieſes ſehr uͤbel geſchloſſen ſey. Die geſunde Vernunft ſtim- met nicht damit uͤberein. Die ſagt, daß die Geſetze ein Zeichen unſerer Unvollkommenheit ſind, und daß dem Gerechten kein Geſetz gegeben iſt, weil er freywil- lig thut, was recht iſt: Und dieſes letzte bekraͤftiget auch die Schrift. Mich deucht alſo, GOtt wuͤrde uns niemahlen gewiſſe Geſetze vorgeſchrieben haben, wenn wir ſo heilige, unſchuldige, und vollkommene Creaturen geweſen waͤren, als der Herr Mantzel aus den erſten Menſchen machen will. Wo zu ſollen einer Creatur, die hoͤchſt vollkommen iſt, ihren wahren Nutzen voͤllig erkennet, nicht die geringſte Begierde hat nach ſolchen Dingen, die ihrem Nutzen entgegen
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(o)
wohl nicht leicht ſagen wird, daß dieſer groſſe Welt-
weiſe aus einer Maſſa præſervata entſproſſen, ſo bleibt
es wohl gewiß, daß dasjenige, was dem Socrates
moͤglich geweſen iſt, andern auch nicht ſchlechter-
dings unmoͤglich ſey. Werden demnach gleich die
natuͤrlichen Geſetze nicht von allen Menſchen aufs
genaueſte beobachtet; ſo kan uns dieſes doch nicht
bewegen, zu ſchlieſſen, wir waͤren nicht in dem Stan-
de, in welchem wir waren, als die Geſetze entſtun-
den, das iſt, als wir erſchafen wurden. Genug, daß
wir ſie halten koͤnnen, wenn wir nur wollen.
Will aber der Herr Prof. Mantzel den faſt allge-
meinen Mangel dieſes Willens als eine Unvollkom-
menheit anfehen, die, wenn ſie ſich bey dem erſten
Menſchen gefunden haͤtte, GOtt wuͤrde abgehalten
haben, die Geſetze der Natur zu geben, und daher den
Schluß machen, daß der erſte Menſch von derſelben
frey geweſen ſey, und eine beſtaͤndige Neigung zum
Guten gehabt habe: So muß er wiſſen, daß dieſes
ſehr uͤbel geſchloſſen ſey. Die geſunde Vernunft ſtim-
met nicht damit uͤberein. Die ſagt, daß die Geſetze
ein Zeichen unſerer Unvollkommenheit ſind, und daß
dem Gerechten kein Geſetz gegeben iſt, weil er freywil-
lig thut, was recht iſt: Und dieſes letzte bekraͤftiget
auch die Schrift. Mich deucht alſo, GOtt wuͤrde
uns niemahlen gewiſſe Geſetze vorgeſchrieben haben,
wenn wir ſo heilige, unſchuldige, und vollkommene
Creaturen geweſen waͤren, als der Herr Mantzel aus
den erſten Menſchen machen will. Wo zu ſollen einer
Creatur, die hoͤchſt vollkommen iſt, ihren wahren
Nutzen voͤllig erkennet, nicht die geringſte Begierde
hat nach ſolchen Dingen, die ihrem Nutzen entgegen
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 642. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/734>, abgerufen am 22.11.2024.
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