Gottheit anzutrefen ist. Wem etwas fehlet, der ist nicht höchst vollkommen (perfectissimus); folglich ist eine Creatur, ihrem Wesen nach, unvollkommen.
II. Aus dieser Anmerckung fliesset eine andere; daß es, nemlich, sehr übel geschlossen ist, wann man aus der Unvollkommenheit einer Creatur Anlaß nimmt zu muthmassen, es müsse dieselbe durch einen sonderlichen Zufall ihre ursprüngliche Vollkommen- heit verlohren haben. Die Unvollkommenheit ist eine Eigenschaft der Creatur, die aus ihrem Wesen flies- set. Wenn sie vollkommen wäre, so würde unter ihr und dem Schöpfer kein Unterscheid seyn. Dieser al- lein ist vollkommen. Das ist: Er kennet, was Raum, Zeit, Macht und Wissen anlanget, keine Gräntzen. Hergegen ist die Ausdehnung, die Daurung, Macht und Erkänntniß aller Creaturen in gewissen Schran- cken eingeschlossen. Je enger dieselben sind, je unvoll- kommener ist eine Creatur. Ueberhaupt aber sind diese Einschränckungen, die das Wesen einer Crea- tur erfordert, der Grund aller Unvollkommenheiten, welche wir an den erschafenen Dingen wahrneh- men. Wenn demnach eine Creatur unvollkommen ist, so befindet sie sich in dem Zustande, darinn sie, ih- rem Wesen nach, seyn muß. Die Grösse der Unvoll- kommenheit, so wir an einigen Creaturen wahrneh- men, darf uns nicht stutzen machen. Wir haben nicht Ursache zu dencken, das Verderben einer gewissen Art von Geschöpfen sey gar zu groß, als daß es aus dem ersten Zustande derselben fliessen könne. Denn, da einmahl ausgemacht ist, daß die Einschränckungen der Creaturen dieselbe unvollkommen machen; die- se Einschränckungen aber ihre Grade haben; so folget,
daß
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Gottheit anzutrefen iſt. Wem etwas fehlet, der iſt nicht hoͤchſt vollkommen (perfectiſſimus); folglich iſt eine Creatur, ihrem Weſen nach, unvollkommen.
II. Aus dieſer Anmerckung flieſſet eine andere; daß es, nemlich, ſehr uͤbel geſchloſſen iſt, wann man aus der Unvollkommenheit einer Creatur Anlaß nimmt zu muthmaſſen, es muͤſſe dieſelbe durch einen ſonderlichen Zufall ihre urſpruͤngliche Vollkommen- heit verlohren haben. Die Unvollkommenheit iſt eine Eigenſchaft der Creatur, die aus ihrem Weſen flieſ- ſet. Wenn ſie vollkommen waͤre, ſo wuͤrde unter ihr und dem Schoͤpfer kein Unterſcheid ſeyn. Dieſer al- lein iſt vollkommen. Das iſt: Er kennet, was Raum, Zeit, Macht und Wiſſen anlanget, keine Graͤntzen. Hergegen iſt die Ausdehnung, die Daurung, Macht und Erkaͤnntniß aller Creaturen in gewiſſen Schran- cken eingeſchloſſen. Je enger dieſelben ſind, je unvoll- kommener iſt eine Creatur. Ueberhaupt aber ſind dieſe Einſchraͤnckungen, die das Weſen einer Crea- tur erfordert, der Grund aller Unvollkommenheiten, welche wir an den erſchafenen Dingen wahrneh- men. Wenn demnach eine Creatur unvollkommen iſt, ſo befindet ſie ſich in dem Zuſtande, darinn ſie, ih- rem Weſen nach, ſeyn muß. Die Groͤſſe der Unvoll- kommenheit, ſo wir an einigen Creaturen wahrneh- men, darf uns nicht ſtutzen machen. Wir haben nicht Urſache zu dencken, das Verderben einer gewiſſen Art von Geſchoͤpfen ſey gar zu groß, als daß es aus dem erſten Zuſtande derſelben flieſſen koͤnne. Denn, da einmahl ausgemacht iſt, daß die Einſchraͤnckungen der Creaturen dieſelbe unvollkommen machen; die- ſe Einſchraͤnckungen aber ihre Grade haben; ſo folget,
daß
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Gottheit anzutrefen iſt. Wem etwas fehlet, der iſt
nicht hoͤchſt vollkommen (perfectiſſimus); folglich iſt
eine Creatur, ihrem Weſen nach, unvollkommen.
II. Aus dieſer Anmerckung flieſſet eine andere;
daß es, nemlich, ſehr uͤbel geſchloſſen iſt, wann man
aus der Unvollkommenheit einer Creatur Anlaß
nimmt zu muthmaſſen, es muͤſſe dieſelbe durch einen
ſonderlichen Zufall ihre urſpruͤngliche Vollkommen-
heit verlohren haben. Die Unvollkommenheit iſt eine
Eigenſchaft der Creatur, die aus ihrem Weſen flieſ-
ſet. Wenn ſie vollkommen waͤre, ſo wuͤrde unter ihr
und dem Schoͤpfer kein Unterſcheid ſeyn. Dieſer al-
lein iſt vollkommen. Das iſt: Er kennet, was Raum,
Zeit, Macht und Wiſſen anlanget, keine Graͤntzen.
Hergegen iſt die Ausdehnung, die Daurung, Macht
und Erkaͤnntniß aller Creaturen in gewiſſen Schran-
cken eingeſchloſſen. Je enger dieſelben ſind, je unvoll-
kommener iſt eine Creatur. Ueberhaupt aber ſind
dieſe Einſchraͤnckungen, die das Weſen einer Crea-
tur erfordert, der Grund aller Unvollkommenheiten,
welche wir an den erſchafenen Dingen wahrneh-
men. Wenn demnach eine Creatur unvollkommen
iſt, ſo befindet ſie ſich in dem Zuſtande, darinn ſie, ih-
rem Weſen nach, ſeyn muß. Die Groͤſſe der Unvoll-
kommenheit, ſo wir an einigen Creaturen wahrneh-
men, darf uns nicht ſtutzen machen. Wir haben nicht
Urſache zu dencken, das Verderben einer gewiſſen Art
von Geſchoͤpfen ſey gar zu groß, als daß es aus dem
erſten Zuſtande derſelben flieſſen koͤnne. Denn, da
einmahl ausgemacht iſt, daß die Einſchraͤnckungen
der Creaturen dieſelbe unvollkommen machen; die-
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 636. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/728>, abgerufen am 22.11.2024.
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