Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
Gedancken qvälen, und nicht schlüssig werden kön-
nen, welchen Einfall sie zuerst zu Papier bringen
wollen. Denn ihre Gedancken sind nicht alle gleich
gut. Allein sie werden dann auch so gut seyn,
und nicht von uns verlangen, daß wir uns eben
so quälen sollen. Wir haben dieses nicht nöthig:
Weil unsere Gedancken alle gleich gut sind, und
also wenig daran gelegen ist, welcher zuerst oder zu-
letzt hingeschrieben werde. Dieses giebt uns einen
besondern Vorzug vor unsern Feinden, und erleich-
tert uns die Geburt ungemein. Jn den Köpfen
der guten Scribenten gehet es nicht anders her,
als in dem Leibe der Rebecca. Die Gedancken
stossen sich darinn, wie die Kinder in dem Bauche
dieser Ertz-Mutter. Ja das Gedrenge der Gedan-
cken, von denen immer einer eher als der andere her-
aus will, ist so groß in dem Gehirn dieser Unglück-
seeligen, daß es nicht zu verwundern wäre, wenn vie-
le in der Geburt darauf giengen, wie die Thamar.

Wir haben dergleichen Zufälle nicht zu besor-
gen. Unsere Gedancken sind einander vollkommen
gleich. Sie leben in Friede, und streiten sich nicht
um den Rang. Sie drengen sich nicht, sondern
gehen ohne alle Ceremonie, wie sie die Reihe trift,
aus Mutter-Leibe hervor. Soll dieses eine Unord-
nung heissen, so müssen unsere Feinde glauben, daß,
ausser den öfentlichen Processionen, keine Ordnung
zu finden, und z. E. in einer Gesellschaft recht guter
Freunde nichts als Verwirrung und Unordnung
anzutrefen sey. Sie werden so wunderlich nicht
seyn, daß sie dieses sagen: Warum aber bilden sie
sich dann ein, daß unsere Schriften darum unor-

dentlich

(o)
Gedancken qvaͤlen, und nicht ſchluͤſſig werden koͤn-
nen, welchen Einfall ſie zuerſt zu Papier bringen
wollen. Denn ihre Gedancken ſind nicht alle gleich
gut. Allein ſie werden dann auch ſo gut ſeyn,
und nicht von uns verlangen, daß wir uns eben
ſo quaͤlen ſollen. Wir haben dieſes nicht noͤthig:
Weil unſere Gedancken alle gleich gut ſind, und
alſo wenig daran gelegen iſt, welcher zuerſt oder zu-
letzt hingeſchrieben werde. Dieſes giebt uns einen
beſondern Vorzug vor unſern Feinden, und erleich-
tert uns die Geburt ungemein. Jn den Koͤpfen
der guten Scribenten gehet es nicht anders her,
als in dem Leibe der Rebecca. Die Gedancken
ſtoſſen ſich darinn, wie die Kinder in dem Bauche
dieſer Ertz-Mutter. Ja das Gedrenge der Gedan-
cken, von denen immer einer eher als der andere her-
aus will, iſt ſo groß in dem Gehirn dieſer Ungluͤck-
ſeeligen, daß es nicht zu verwundern waͤre, wenn vie-
le in der Geburt darauf giengen, wie die Thamar.

Wir haben dergleichen Zufaͤlle nicht zu beſor-
gen. Unſere Gedancken ſind einander vollkommen
gleich. Sie leben in Friede, und ſtreiten ſich nicht
um den Rang. Sie drengen ſich nicht, ſondern
gehen ohne alle Ceremonie, wie ſie die Reihe trift,
aus Mutter-Leibe hervor. Soll dieſes eine Unord-
nung heiſſen, ſo muͤſſen unſere Feinde glauben, daß,
auſſer den oͤfentlichen Proceſſionen, keine Ordnung
zu finden, und z. E. in einer Geſellſchaft recht guter
Freunde nichts als Verwirrung und Unordnung
anzutrefen ſey. Sie werden ſo wunderlich nicht
ſeyn, daß ſie dieſes ſagen: Warum aber bilden ſie
ſich dann ein, daß unſere Schriften darum unor-

dentlich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0646" n="554"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
Gedancken qva&#x0364;len, und nicht &#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig werden ko&#x0364;n-<lb/>
nen, welchen Einfall &#x017F;ie zuer&#x017F;t zu Papier bringen<lb/>
wollen. Denn ihre Gedancken &#x017F;ind nicht alle gleich<lb/>
gut. Allein &#x017F;ie werden dann auch &#x017F;o gut &#x017F;eyn,<lb/>
und nicht von uns verlangen, daß wir uns eben<lb/>
&#x017F;o qua&#x0364;len &#x017F;ollen. Wir haben die&#x017F;es nicht no&#x0364;thig:<lb/>
Weil un&#x017F;ere Gedancken alle gleich gut &#x017F;ind, und<lb/>
al&#x017F;o wenig daran gelegen i&#x017F;t, welcher zuer&#x017F;t oder zu-<lb/>
letzt hinge&#x017F;chrieben werde. Die&#x017F;es giebt uns einen<lb/>
be&#x017F;ondern Vorzug vor un&#x017F;ern Feinden, und erleich-<lb/>
tert uns die Geburt ungemein. Jn den Ko&#x0364;pfen<lb/>
der guten Scribenten gehet es nicht anders her,<lb/>
als in dem Leibe der Rebecca. Die Gedancken<lb/>
&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich darinn, wie die Kinder in dem Bauche<lb/>
die&#x017F;er Ertz-Mutter. Ja das Gedrenge der Gedan-<lb/>
cken, von denen immer einer eher als der andere her-<lb/>
aus will, i&#x017F;t &#x017F;o groß in dem Gehirn die&#x017F;er Unglu&#x0364;ck-<lb/>
&#x017F;eeligen, daß es nicht zu verwundern wa&#x0364;re, wenn vie-<lb/>
le in der Geburt darauf giengen, wie die Thamar.</p><lb/>
          <p>Wir haben dergleichen Zufa&#x0364;lle nicht zu be&#x017F;or-<lb/>
gen. Un&#x017F;ere Gedancken &#x017F;ind einander vollkommen<lb/>
gleich. Sie leben in Friede, und &#x017F;treiten &#x017F;ich nicht<lb/>
um den Rang. Sie drengen &#x017F;ich nicht, &#x017F;ondern<lb/>
gehen ohne alle Ceremonie, wie &#x017F;ie die Reihe trift,<lb/>
aus Mutter-Leibe hervor. Soll die&#x017F;es eine Unord-<lb/>
nung hei&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en un&#x017F;ere Feinde glauben, daß,<lb/>
au&#x017F;&#x017F;er den o&#x0364;fentlichen Proce&#x017F;&#x017F;ionen, keine Ordnung<lb/>
zu finden, und z. E. in einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft recht guter<lb/>
Freunde nichts als Verwirrung und Unordnung<lb/>
anzutrefen &#x017F;ey. Sie werden &#x017F;o wunderlich nicht<lb/>
&#x017F;eyn, daß &#x017F;ie die&#x017F;es &#x017F;agen: Warum aber bilden &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich dann ein, daß un&#x017F;ere Schriften darum unor-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dentlich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[554/0646] (o) Gedancken qvaͤlen, und nicht ſchluͤſſig werden koͤn- nen, welchen Einfall ſie zuerſt zu Papier bringen wollen. Denn ihre Gedancken ſind nicht alle gleich gut. Allein ſie werden dann auch ſo gut ſeyn, und nicht von uns verlangen, daß wir uns eben ſo quaͤlen ſollen. Wir haben dieſes nicht noͤthig: Weil unſere Gedancken alle gleich gut ſind, und alſo wenig daran gelegen iſt, welcher zuerſt oder zu- letzt hingeſchrieben werde. Dieſes giebt uns einen beſondern Vorzug vor unſern Feinden, und erleich- tert uns die Geburt ungemein. Jn den Koͤpfen der guten Scribenten gehet es nicht anders her, als in dem Leibe der Rebecca. Die Gedancken ſtoſſen ſich darinn, wie die Kinder in dem Bauche dieſer Ertz-Mutter. Ja das Gedrenge der Gedan- cken, von denen immer einer eher als der andere her- aus will, iſt ſo groß in dem Gehirn dieſer Ungluͤck- ſeeligen, daß es nicht zu verwundern waͤre, wenn vie- le in der Geburt darauf giengen, wie die Thamar. Wir haben dergleichen Zufaͤlle nicht zu beſor- gen. Unſere Gedancken ſind einander vollkommen gleich. Sie leben in Friede, und ſtreiten ſich nicht um den Rang. Sie drengen ſich nicht, ſondern gehen ohne alle Ceremonie, wie ſie die Reihe trift, aus Mutter-Leibe hervor. Soll dieſes eine Unord- nung heiſſen, ſo muͤſſen unſere Feinde glauben, daß, auſſer den oͤfentlichen Proceſſionen, keine Ordnung zu finden, und z. E. in einer Geſellſchaft recht guter Freunde nichts als Verwirrung und Unordnung anzutrefen ſey. Sie werden ſo wunderlich nicht ſeyn, daß ſie dieſes ſagen: Warum aber bilden ſie ſich dann ein, daß unſere Schriften darum unor- dentlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/646
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/646>, abgerufen am 25.11.2024.