ist. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen? Sprechen sie: Sie blieben bey der Erkänntniß ihrer Fehler nicht, stehen, sondern bemüheten sich, durch die Ablegung derselben, die Vollkommenheit zu er- reichen, die allein einen Scribenten vergnügt ma- chen kan? So antworte ich: Daß es unmöglich sey, auf folche Art vergnügt und glücklich zu werden. Jch berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Wäre es möglich, so müste die Zufriedenheit eines Scriben- ten, der es in der Ausbesserung seiner Fehler weit ge- bracht, und der Vollkommenheit sehr nahe gekom- men ist, grösser seyn, als eines andern, der es nicht so hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen- heit entfernet ist. Aber so sehen wir täglich das Ge- gentheil. Montaigne (49) sagt; Es gehe den Ge- lehrten wie den Aehren, die so lange aufrecht stehen, und sich brüsten, als sie leer sind; so bald sie aber von Körnern schwer werden, das Haupt sincken lassen; Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri- bent ist bey allen seinen Fehlern vergnügt, und mit sich selbst zu frieden. Je näher hergegen ein Scri- bent der Vollkommenheit kömmt, je mehr Fehler entdeckt er an sich; je leckerer, je verdrießlicher, je mißvergnügter mit sich selbst wird er. Die Ursa- che ist diese, weil die Vollkommenheit, nach wel- cher die guten Scribenten streben, eine leere Ein-
bildung
(49)Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il est advenu aux gens veritablement scavans, ce qui advient aux espics de bled, ils vont s'eslevant & haussant la teste droite & fiere, tant qu'ils sont vuides; mais quand ils sont pleins & grossis de grain en leur maturite, ils commencent a s'humiliet & baisser les cornes.
(o)
iſt. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen? Sprechen ſie: Sie blieben bey der Erkaͤnntniß ihrer Fehler nicht, ſtehen, ſondern bemuͤheten ſich, durch die Ablegung derſelben, die Vollkommenheit zu er- reichen, die allein einen Scribenten vergnuͤgt ma- chen kan? So antworte ich: Daß es unmoͤglich ſey, auf folche Art vergnuͤgt und gluͤcklich zu werden. Jch berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Waͤre es moͤglich, ſo muͤſte die Zufriedenheit eines Scriben- ten, der es in der Ausbeſſerung ſeiner Fehler weit ge- bracht, und der Vollkommenheit ſehr nahe gekom- men iſt, groͤſſer ſeyn, als eines andern, der es nicht ſo hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen- heit entfernet iſt. Aber ſo ſehen wir taͤglich das Ge- gentheil. Montaigne (49) ſagt; Es gehe den Ge- lehrten wie den Aehren, die ſo lange aufrecht ſtehen, und ſich bruͤſten, als ſie leer ſind; ſo bald ſie aber von Koͤrnern ſchwer werden, das Haupt ſincken laſſen; Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri- bent iſt bey allen ſeinen Fehlern vergnuͤgt, und mit ſich ſelbſt zu frieden. Je naͤher hergegen ein Scri- bent der Vollkommenheit koͤmmt, je mehr Fehler entdeckt er an ſich; je leckerer, je verdrießlicher, je mißvergnuͤgter mit ſich ſelbſt wird er. Die Urſa- che iſt dieſe, weil die Vollkommenheit, nach wel- cher die guten Scribenten ſtreben, eine leere Ein-
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(49)Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il eſt advenu aux gens veritablement ſçavans, ce qui advient aux eſpics de bled, ils vont s’eslevant & hauſſant la teſte droite & fiere, tant qu’ils ſont vuides; mais quand ils ſont pleins & groſſis de grain en leur maturité, ils commencent à s’humiliet & baiſſer les cornes.
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iſt. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen?
Sprechen ſie: Sie blieben bey der Erkaͤnntniß ihrer
Fehler nicht, ſtehen, ſondern bemuͤheten ſich, durch
die Ablegung derſelben, die Vollkommenheit zu er-
reichen, die allein einen Scribenten vergnuͤgt ma-
chen kan? So antworte ich: Daß es unmoͤglich ſey,
auf folche Art vergnuͤgt und gluͤcklich zu werden. Jch
berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Waͤre es
moͤglich, ſo muͤſte die Zufriedenheit eines Scriben-
ten, der es in der Ausbeſſerung ſeiner Fehler weit ge-
bracht, und der Vollkommenheit ſehr nahe gekom-
men iſt, groͤſſer ſeyn, als eines andern, der es nicht
ſo hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen-
heit entfernet iſt. Aber ſo ſehen wir taͤglich das Ge-
gentheil. Montaigne (49) ſagt; Es gehe den Ge-
lehrten wie den Aehren, die ſo lange aufrecht ſtehen,
und ſich bruͤſten, als ſie leer ſind; ſo bald ſie aber von
Koͤrnern ſchwer werden, das Haupt ſincken laſſen;
Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri-
bent iſt bey allen ſeinen Fehlern vergnuͤgt, und mit
ſich ſelbſt zu frieden. Je naͤher hergegen ein Scri-
bent der Vollkommenheit koͤmmt, je mehr Fehler
entdeckt er an ſich; je leckerer, je verdrießlicher, je
mißvergnuͤgter mit ſich ſelbſt wird er. Die Urſa-
che iſt dieſe, weil die Vollkommenheit, nach wel-
cher die guten Scribenten ſtreben, eine leere Ein-
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(49) Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il eſt advenu
aux gens veritablement ſçavans, ce qui advient
aux eſpics de bled, ils vont s’eslevant & hauſſant
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mais quand ils ſont pleins & groſſis de grain en
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/635>, abgerufen am 22.11.2024.
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