die Erkenntniß unserer Vergehungen, mit einem Worte, daß Gewissen genennet wird; das Gewis- sen aber in dem Ruf ist, daß es beisse, so ist leicht zu begreifen, was zwischen demselben und einer Lauß vor eine Aehnlichkeit sey. Jch halte mich dabey nicht auf; sondern bitte nur meine Leser mit mir zu erwegen, was die vortrefliche Eigenschaft, die wir, wie Plinius zeuget, und die Erfahrung lehret, be- sitzen, vor Vortheile mit sich führet.
Die Erkänntniß der Fehler gebiehret Reue. Die Reue ist nichts anders, als eine Art von Traurigkeit, und folglich ein verdrießlicher Afect. Sie kan ohne Zerknirschung, und ohne einen Ab- scheu vor uns selbst nicht begrifen werden. Sie macht also einen Menschen mißvergnügt mit seinem Zustande; Und wer mit seinem Zustande nicht zu frieden ist, kan nimmer glücklich seyn. Unsere Feinde empfinden mit ihrem Schaden, daß das, was ich hier schreibe, die Wahrheit ist. Je mehr Verstand sie haben, je tiefer sehen sie ihre Fehler ein, und diese verdrießliche Einsicht macht ihnen das Leben rechtschafen sauer. Jch darf ihnen nicht vorstellen, mit wie vielen Schmertzen sie ihre geist- lichen Kinder empfangen, und zur Welt bringen. Sie wissen es besser, als ich es ihnen sagen kan: Sie leugnen es auch nicht. Und wenn denn end- lich ein guter Scribent von seiner gelehrten Bürde, nach einer schweren Geburt, entbunden wird, so ist er nicht einmahl so glücklich, als die Affen, die ihre Jungen, ihrer Heßlichkeit ungeachtet, zärtlich lieben; sondern er entdecket an den Kindern seines
Ver-
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die Erkenntniß unſerer Vergehungen, mit einem Worte, daß Gewiſſen genennet wird; das Gewiſ- ſen aber in dem Ruf iſt, daß es beiſſe, ſo iſt leicht zu begreifen, was zwiſchen demſelben und einer Lauß vor eine Aehnlichkeit ſey. Jch halte mich dabey nicht auf; ſondern bitte nur meine Leſer mit mir zu erwegen, was die vortrefliche Eigenſchaft, die wir, wie Plinius zeuget, und die Erfahrung lehret, be- ſitzen, vor Vortheile mit ſich fuͤhret.
Die Erkaͤnntniß der Fehler gebiehret Reue. Die Reue iſt nichts anders, als eine Art von Traurigkeit, und folglich ein verdrießlicher Afect. Sie kan ohne Zerknirſchung, und ohne einen Ab- ſcheu vor uns ſelbſt nicht begrifen werden. Sie macht alſo einen Menſchen mißvergnuͤgt mit ſeinem Zuſtande; Und wer mit ſeinem Zuſtande nicht zu frieden iſt, kan nimmer gluͤcklich ſeyn. Unſere Feinde empfinden mit ihrem Schaden, daß das, was ich hier ſchreibe, die Wahrheit iſt. Je mehr Verſtand ſie haben, je tiefer ſehen ſie ihre Fehler ein, und dieſe verdrießliche Einſicht macht ihnen das Leben rechtſchafen ſauer. Jch darf ihnen nicht vorſtellen, mit wie vielen Schmertzen ſie ihre geiſt- lichen Kinder empfangen, und zur Welt bringen. Sie wiſſen es beſſer, als ich es ihnen ſagen kan: Sie leugnen es auch nicht. Und wenn denn end- lich ein guter Scribent von ſeiner gelehrten Buͤrde, nach einer ſchweren Geburt, entbunden wird, ſo iſt er nicht einmahl ſo gluͤcklich, als die Affen, die ihre Jungen, ihrer Heßlichkeit ungeachtet, zaͤrtlich lieben; ſondern er entdecket an den Kindern ſeines
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die Erkenntniß unſerer Vergehungen, mit einem
Worte, daß Gewiſſen genennet wird; das Gewiſ-
ſen aber in dem Ruf iſt, daß es beiſſe, ſo iſt leicht
zu begreifen, was zwiſchen demſelben und einer Lauß
vor eine Aehnlichkeit ſey. Jch halte mich dabey
nicht auf; ſondern bitte nur meine Leſer mit mir zu
erwegen, was die vortrefliche Eigenſchaft, die wir,
wie Plinius zeuget, und die Erfahrung lehret, be-
ſitzen, vor Vortheile mit ſich fuͤhret.
Die Erkaͤnntniß der Fehler gebiehret Reue.
Die Reue iſt nichts anders, als eine Art von
Traurigkeit, und folglich ein verdrießlicher Afect.
Sie kan ohne Zerknirſchung, und ohne einen Ab-
ſcheu vor uns ſelbſt nicht begrifen werden. Sie
macht alſo einen Menſchen mißvergnuͤgt mit ſeinem
Zuſtande; Und wer mit ſeinem Zuſtande nicht zu
frieden iſt, kan nimmer gluͤcklich ſeyn. Unſere
Feinde empfinden mit ihrem Schaden, daß das,
was ich hier ſchreibe, die Wahrheit iſt. Je mehr
Verſtand ſie haben, je tiefer ſehen ſie ihre Fehler
ein, und dieſe verdrießliche Einſicht macht ihnen
das Leben rechtſchafen ſauer. Jch darf ihnen nicht
vorſtellen, mit wie vielen Schmertzen ſie ihre geiſt-
lichen Kinder empfangen, und zur Welt bringen.
Sie wiſſen es beſſer, als ich es ihnen ſagen kan:
Sie leugnen es auch nicht. Und wenn denn end-
lich ein guter Scribent von ſeiner gelehrten Buͤrde,
nach einer ſchweren Geburt, entbunden wird, ſo
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/631>, abgerufen am 25.11.2024.
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