Diese vortrefliche Eigenschaft erhebet uns un- endlich über unsere Feinde. Ein guter Scribent muß seine besten Jahre mit einem verdrießlichen Lernen verderben: Weil er die abergläubige Einbil- dung hat, man könne sonst nicht schreiben. Wir hergegen fangen gantz frühe an zu schreiben, und warten nicht biß die bösen Tage kommen, und die Jahre herzu treten, da man sagt: Sie gefallen mir nicht. Wir können gleich, ohne alle Vorberei- tung, zum Wercke, schreiten, und ehe ein guter Scribent mit der Einsammlung der Sachen fertig ist, die er zu seinem Zweck nöthig achtet, haben wir uns zehnmahl in Kupfer stechen lassen, und den be- sten Platz in den Buch-Läden eingenommen. Ein guter Scribent mag seine Zeit noch so wohl ange- wandt und sich zum Schreiben so geschickt gemacht haben, als er immer will, so wird er doch allezeit gestehen, daß einige Materien ihm zu hoch sind, und selbst von denen, die er verstehet, nicht ohne vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und Zittern schreiben. Uns ist keine Materie zu hoch. Wir wissen alles, ob wir gleich nichts wissen. Wir schreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und daher hat die Welt von uns die besten Dienste. Wir entdecken eine unsägliche Menge der gefähr- lichsten Jrrthümer, die unsere Feinde gemeiniglich übersehen, und das in Schriften, die wir nicht ge- lesen haben, und die wir, wenn wir sie lesen, kaum verstehen. Wir sind die eyferigsten Vertheidiger der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir entdecken sie, wie sehr sie sich auch verbergen: Und ob wir gleich nicht wissen, was Ketzer und Ketzerey ist;
So
Kk 4
(o)
Dieſe vortrefliche Eigenſchaft erhebet uns un- endlich uͤber unſere Feinde. Ein guter Scribent muß ſeine beſten Jahre mit einem verdrießlichen Lernen verderben: Weil er die aberglaͤubige Einbil- dung hat, man koͤnne ſonſt nicht ſchreiben. Wir hergegen fangen gantz fruͤhe an zu ſchreiben, und warten nicht biß die boͤſen Tage kommen, und die Jahre herzu treten, da man ſagt: Sie gefallen mir nicht. Wir koͤnnen gleich, ohne alle Vorberei- tung, zum Wercke, ſchreiten, und ehe ein guter Scribent mit der Einſammlung der Sachen fertig iſt, die er zu ſeinem Zweck noͤthig achtet, haben wir uns zehnmahl in Kupfer ſtechen laſſen, und den be- ſten Platz in den Buch-Laͤden eingenommen. Ein guter Scribent mag ſeine Zeit noch ſo wohl ange- wandt und ſich zum Schreiben ſo geſchickt gemacht haben, als er immer will, ſo wird er doch allezeit geſtehen, daß einige Materien ihm zu hoch ſind, und ſelbſt von denen, die er verſtehet, nicht ohne vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und Zittern ſchreiben. Uns iſt keine Materie zu hoch. Wir wiſſen alles, ob wir gleich nichts wiſſen. Wir ſchreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und daher hat die Welt von uns die beſten Dienſte. Wir entdecken eine unſaͤgliche Menge der gefaͤhr- lichſten Jrrthuͤmer, die unſere Feinde gemeiniglich uͤberſehen, und das in Schriften, die wir nicht ge- leſen haben, und die wir, wenn wir ſie leſen, kaum verſtehen. Wir ſind die eyferigſten Vertheidiger der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir entdecken ſie, wie ſehr ſie ſich auch verbergen: Und ob wir gleich nicht wiſſen, was Ketzer und Ketzerey iſt;
So
Kk 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0611"n="519"/><fwplace="top"type="header">(<hirendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/><p>Dieſe vortrefliche Eigenſchaft erhebet uns un-<lb/>
endlich uͤber unſere Feinde. Ein guter Scribent<lb/>
muß ſeine beſten Jahre mit einem verdrießlichen<lb/>
Lernen verderben: Weil er die aberglaͤubige Einbil-<lb/>
dung hat, man koͤnne ſonſt nicht ſchreiben. Wir<lb/>
hergegen fangen gantz fruͤhe an zu ſchreiben, und<lb/>
warten nicht biß die boͤſen Tage kommen, und die<lb/>
Jahre herzu treten, da man ſagt: Sie gefallen mir<lb/>
nicht. Wir koͤnnen gleich, ohne alle Vorberei-<lb/>
tung, zum Wercke, ſchreiten, und ehe ein guter<lb/>
Scribent mit der Einſammlung der Sachen fertig<lb/>
iſt, die er zu ſeinem Zweck noͤthig achtet, haben wir<lb/>
uns zehnmahl in Kupfer ſtechen laſſen, und den be-<lb/>ſten Platz in den Buch-Laͤden eingenommen. Ein<lb/>
guter Scribent mag ſeine Zeit noch ſo wohl ange-<lb/>
wandt und ſich zum Schreiben ſo geſchickt gemacht<lb/>
haben, als er immer will, ſo wird er doch allezeit<lb/>
geſtehen, daß einige Materien ihm zu hoch ſind,<lb/>
und ſelbſt von denen, die er verſtehet, nicht ohne<lb/>
vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und<lb/>
Zittern ſchreiben. Uns iſt keine Materie zu hoch.<lb/>
Wir wiſſen alles, ob wir gleich nichts wiſſen. Wir<lb/>ſchreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und<lb/>
daher hat die Welt von uns die beſten Dienſte.<lb/>
Wir entdecken eine unſaͤgliche Menge der gefaͤhr-<lb/>
lichſten Jrrthuͤmer, die unſere Feinde gemeiniglich<lb/>
uͤberſehen, und das in Schriften, die wir nicht ge-<lb/>
leſen haben, und die wir, wenn wir ſie leſen, kaum<lb/>
verſtehen. Wir ſind die eyferigſten Vertheidiger<lb/>
der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir<lb/>
entdecken ſie, wie ſehr ſie ſich auch verbergen: Und ob<lb/>
wir gleich nicht wiſſen, was Ketzer und Ketzerey iſt;<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Kk 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">So</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[519/0611]
(o)
Dieſe vortrefliche Eigenſchaft erhebet uns un-
endlich uͤber unſere Feinde. Ein guter Scribent
muß ſeine beſten Jahre mit einem verdrießlichen
Lernen verderben: Weil er die aberglaͤubige Einbil-
dung hat, man koͤnne ſonſt nicht ſchreiben. Wir
hergegen fangen gantz fruͤhe an zu ſchreiben, und
warten nicht biß die boͤſen Tage kommen, und die
Jahre herzu treten, da man ſagt: Sie gefallen mir
nicht. Wir koͤnnen gleich, ohne alle Vorberei-
tung, zum Wercke, ſchreiten, und ehe ein guter
Scribent mit der Einſammlung der Sachen fertig
iſt, die er zu ſeinem Zweck noͤthig achtet, haben wir
uns zehnmahl in Kupfer ſtechen laſſen, und den be-
ſten Platz in den Buch-Laͤden eingenommen. Ein
guter Scribent mag ſeine Zeit noch ſo wohl ange-
wandt und ſich zum Schreiben ſo geſchickt gemacht
haben, als er immer will, ſo wird er doch allezeit
geſtehen, daß einige Materien ihm zu hoch ſind,
und ſelbſt von denen, die er verſtehet, nicht ohne
vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und
Zittern ſchreiben. Uns iſt keine Materie zu hoch.
Wir wiſſen alles, ob wir gleich nichts wiſſen. Wir
ſchreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und
daher hat die Welt von uns die beſten Dienſte.
Wir entdecken eine unſaͤgliche Menge der gefaͤhr-
lichſten Jrrthuͤmer, die unſere Feinde gemeiniglich
uͤberſehen, und das in Schriften, die wir nicht ge-
leſen haben, und die wir, wenn wir ſie leſen, kaum
verſtehen. Wir ſind die eyferigſten Vertheidiger
der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir
entdecken ſie, wie ſehr ſie ſich auch verbergen: Und ob
wir gleich nicht wiſſen, was Ketzer und Ketzerey iſt;
So
Kk 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/611>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.