schen zur Sünde verleiten, und eben so unglücklich machen können, als sie selbst sind? Sie haben den natürlichen Brauch der Vernunft in den unnatür- lichen verkehret. Man lässet ihnen ihren Willen: Aber warum wollen sie uns denn nicht erlauben, nach unserm Gewissen zu handeln? Warum rech- nen sie es uns als eine grosse Thorheit an, daß wir, wie es die Pflicht eines jeden vernünftigen Menschen erfordert, mit der Ordnung der Natur zu frieden sind?
Denn darinn bestehet eigentlich unser Verbre- chen. Wie gerne wir auch gäntzlich von der Ver- nunft befreyet wären, so können wir dieselbe doch nicht völlig dämpfen, und es scheinet eben so un- möglich, gantz ohne Vernunft, als gantz ohne Sün- de zu seyn. So lange wir mit dem Leibe dieses Todes umgeben sind, werden wir uns wohl mit die- ser verdrießlichen Eigenschaft schleppen müssen. Wie es indessen die Pflicht eines Christen erfordert, daß er die Sünde nicht herrschen lasse; so muß auch ein jeder Mensch sich sorgfältig hüten, daß er der Ver- nunft nicht gar zu viele Gewalt über seine Hand- lungen einräume. Dieses thun wir elende Scri- benten, und bilden uns ein, das sicherste sey, der Natur zu folgen. Da nun die Vernunft ihr Für- stenthum verlohren hat, und mit den Ketten der Afecten gebunden ist; So muß man sie, will man gute Dienste von ihr haben, von diesen Banden nicht loß machen, sondern immer in den Schrancken hal- ten, welche die Natur derselben gesetzet hat. Man muß sie also, wenn man sie ja gebrauchen will, nur als ein Werck-Zeug, zu Ausführung seiner Absich-
ten,
(o)
ſchen zur Suͤnde verleiten, und eben ſo ungluͤcklich machen koͤnnen, als ſie ſelbſt ſind? Sie haben den natuͤrlichen Brauch der Vernunft in den unnatuͤr- lichen verkehret. Man laͤſſet ihnen ihren Willen: Aber warum wollen ſie uns denn nicht erlauben, nach unſerm Gewiſſen zu handeln? Warum rech- nen ſie es uns als eine groſſe Thorheit an, daß wir, wie es die Pflicht eines jeden vernuͤnftigen Menſchen erfordert, mit der Ordnung der Natur zu frieden ſind?
Denn darinn beſtehet eigentlich unſer Verbre- chen. Wie gerne wir auch gaͤntzlich von der Ver- nunft befreyet waͤren, ſo koͤnnen wir dieſelbe doch nicht voͤllig daͤmpfen, und es ſcheinet eben ſo un- moͤglich, gantz ohne Vernunft, als gantz ohne Suͤn- de zu ſeyn. So lange wir mit dem Leibe dieſes Todes umgeben ſind, werden wir uns wohl mit die- ſer verdrießlichen Eigenſchaft ſchleppen muͤſſen. Wie es indeſſen die Pflicht eines Chriſten erfordert, daß er die Suͤnde nicht herrſchen laſſe; ſo muß auch ein jeder Menſch ſich ſorgfaͤltig huͤten, daß er der Ver- nunft nicht gar zu viele Gewalt uͤber ſeine Hand- lungen einraͤume. Dieſes thun wir elende Scri- benten, und bilden uns ein, das ſicherſte ſey, der Natur zu folgen. Da nun die Vernunft ihr Fuͤr- ſtenthum verlohren hat, und mit den Ketten der Afecten gebunden iſt; So muß man ſie, will man gute Dienſte von ihr haben, von dieſen Banden nicht loß machen, ſondern immer in den Schrancken hal- ten, welche die Natur derſelben geſetzet hat. Man muß ſie alſo, wenn man ſie ja gebrauchen will, nur als ein Werck-Zeug, zu Ausfuͤhrung ſeiner Abſich-
ten,
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(o)
ſchen zur Suͤnde verleiten, und eben ſo ungluͤcklich
machen koͤnnen, als ſie ſelbſt ſind? Sie haben den
natuͤrlichen Brauch der Vernunft in den unnatuͤr-
lichen verkehret. Man laͤſſet ihnen ihren Willen:
Aber warum wollen ſie uns denn nicht erlauben,
nach unſerm Gewiſſen zu handeln? Warum rech-
nen ſie es uns als eine groſſe Thorheit an, daß
wir, wie es die Pflicht eines jeden vernuͤnftigen
Menſchen erfordert, mit der Ordnung der Natur
zu frieden ſind?
Denn darinn beſtehet eigentlich unſer Verbre-
chen. Wie gerne wir auch gaͤntzlich von der Ver-
nunft befreyet waͤren, ſo koͤnnen wir dieſelbe doch
nicht voͤllig daͤmpfen, und es ſcheinet eben ſo un-
moͤglich, gantz ohne Vernunft, als gantz ohne Suͤn-
de zu ſeyn. So lange wir mit dem Leibe dieſes
Todes umgeben ſind, werden wir uns wohl mit die-
ſer verdrießlichen Eigenſchaft ſchleppen muͤſſen. Wie
es indeſſen die Pflicht eines Chriſten erfordert, daß
er die Suͤnde nicht herrſchen laſſe; ſo muß auch ein
jeder Menſch ſich ſorgfaͤltig huͤten, daß er der Ver-
nunft nicht gar zu viele Gewalt uͤber ſeine Hand-
lungen einraͤume. Dieſes thun wir elende Scri-
benten, und bilden uns ein, das ſicherſte ſey, der
Natur zu folgen. Da nun die Vernunft ihr Fuͤr-
ſtenthum verlohren hat, und mit den Ketten der
Afecten gebunden iſt; So muß man ſie, will man
gute Dienſte von ihr haben, von dieſen Banden nicht
loß machen, ſondern immer in den Schrancken hal-
ten, welche die Natur derſelben geſetzet hat. Man
muß ſie alſo, wenn man ſie ja gebrauchen will, nur
als ein Werck-Zeug, zu Ausfuͤhrung ſeiner Abſich-
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/601>, abgerufen am 22.11.2024.
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