Werth der ihnen vorkommenden Schriften urthei- len, und auch selbst diejenigen, die sie vor elende Scribenten halten, nicht vor ihre Brüder erken- nen. Denn dieses können sie nicht thun, weil sie sich selbst nicht kennen. Nichts ist gut oder schlecht, als in Vergleichung mit einer andern Sache: Und die bösen Scribenten sind dem Grade nach, eben so sehr unterschieden, als die guten. Es ist also gar natürlich, daß ein jeder elender Scribent durch den geringsten Vorzug, den er etwan vor einem andern zu haben vermeinet, verführet wird, sich selbst unter die guten zu zehlen. Der kleine, und fast nicht zu merckende Unterscheid zwischen Philippi, und Ro- digast, giebt dem ersten, wie er glaubt, Recht, zu dencken, er sey etwas, und über einen Menschen zu lachen, der doch sein Bruder ist. Man kan nicht leugnen, er kan dieses mit eben dem Fug thun, als einer, der einen andern in einer tiefen Gru- be liegen siehet, dencken kan, er befinde sich an einem erhabenen Ort, ob er gleich nur auf ebener Erde stehet. Und Philippi ist nicht der eintzige, der so dencket. Seine Brüder sind alle so gesinnet. Es scheinet die Natur habe zwischen den guten und elenden Scribenten einen eben so mercklichen Unter- scheid gemacht, als zwischen dem Menschen und den unvernünftigen Thieren.
"Pronaque cum spectent animalia cetera ter- ram, "Os homini sublime dedit, coelumque tueri "Jussit, & erectos ad sidera tollere vultus(4).
Ein
(4)Ovidius Metamorph, lib. I.
(o)
Werth der ihnen vorkommenden Schriften urthei- len, und auch ſelbſt diejenigen, die ſie vor elende Scribenten halten, nicht vor ihre Bruͤder erken- nen. Denn dieſes koͤnnen ſie nicht thun, weil ſie ſich ſelbſt nicht kennen. Nichts iſt gut oder ſchlecht, als in Vergleichung mit einer andern Sache: Und die boͤſen Scribenten ſind dem Grade nach, eben ſo ſehr unterſchieden, als die guten. Es iſt alſo gar natuͤrlich, daß ein jeder elender Scribent durch den geringſten Vorzug, den er etwan vor einem andern zu haben vermeinet, verfuͤhret wird, ſich ſelbſt unter die guten zu zehlen. Der kleine, und faſt nicht zu merckende Unterſcheid zwiſchen Philippi, und Ro- digaſt, giebt dem erſten, wie er glaubt, Recht, zu dencken, er ſey etwas, und uͤber einen Menſchen zu lachen, der doch ſein Bruder iſt. Man kan nicht leugnen, er kan dieſes mit eben dem Fug thun, als einer, der einen andern in einer tiefen Gru- be liegen ſiehet, dencken kan, er befinde ſich an einem erhabenen Ort, ob er gleich nur auf ebener Erde ſtehet. Und Philippi iſt nicht der eintzige, der ſo dencket. Seine Bruͤder ſind alle ſo geſinnet. Es ſcheinet die Natur habe zwiſchen den guten und elenden Scribenten einen eben ſo mercklichen Unter- ſcheid gemacht, als zwiſchen dem Menſchen und den unvernuͤnftigen Thieren.
„Pronaque cum ſpectent animalia cetera ter- ram, „Os homini ſublime dedit, cœlumque tueri „Juſſit, & erectos ad ſidera tollere vultus(4).
Ein
(4)Ovidius Metamorph, lib. I.
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Werth der ihnen vorkommenden Schriften urthei-
len, und auch ſelbſt diejenigen, die ſie vor elende
Scribenten halten, nicht vor ihre Bruͤder erken-
nen. Denn dieſes koͤnnen ſie nicht thun, weil ſie
ſich ſelbſt nicht kennen. Nichts iſt gut oder ſchlecht,
als in Vergleichung mit einer andern Sache: Und
die boͤſen Scribenten ſind dem Grade nach, eben
ſo ſehr unterſchieden, als die guten. Es iſt alſo gar
natuͤrlich, daß ein jeder elender Scribent durch den
geringſten Vorzug, den er etwan vor einem andern
zu haben vermeinet, verfuͤhret wird, ſich ſelbſt unter
die guten zu zehlen. Der kleine, und faſt nicht zu
merckende Unterſcheid zwiſchen Philippi, und Ro-
digaſt, giebt dem erſten, wie er glaubt, Recht, zu
dencken, er ſey etwas, und uͤber einen Menſchen zu
lachen, der doch ſein Bruder iſt. Man kan nicht
leugnen, er kan dieſes mit eben dem Fug thun,
als einer, der einen andern in einer tiefen Gru-
be liegen ſiehet, dencken kan, er befinde ſich an
einem erhabenen Ort, ob er gleich nur auf ebener
Erde ſtehet. Und Philippi iſt nicht der eintzige,
der ſo dencket. Seine Bruͤder ſind alle ſo geſinnet.
Es ſcheinet die Natur habe zwiſchen den guten und
elenden Scribenten einen eben ſo mercklichen Unter-
ſcheid gemacht, als zwiſchen dem Menſchen und den
unvernuͤnftigen Thieren.
„Pronaque cum ſpectent animalia cetera ter-
ram,
„Os homini ſublime dedit, cœlumque tueri
„Juſſit, & erectos ad ſidera tollere vultus (4).
Ein
(4) Ovidius Metamorph, lib. I.
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/571>, abgerufen am 25.11.2024.
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