selbst ist, nichts übermenschliches reden kan. Da- zu wird eine kleine Verrückung des Verstandes unumgänglich erfodert. Non potest grande ali- quid, sagt Seneca, & supra ceteros loqui, nisi mo- ta mens. Cum vulgaria & solita contempsit, in- stinctuque sacro surrexit excelsior, tunc demum aliquid cecinit grandius ore mortali. Non potest sublime quicquam & in arduo positum continge- re, quamdiu apud se est. Desciscat oportet a so- lito, & efferatur, & mordeat fraenos, & recto- rem rapiat suum, eoque ferat, quo per se timuis- set ascendere(16). Und würdest du also, entzück- ter Philippi, wohl so herrliche Dinge an der De- cke unsers Saals gewahr worden seyn, wenn nicht deine, durch eine unsichtbare Gewalt angefeurte Einbildungs-Kraft über deine Sinnen und Ver- nunft, die Oberhand bekommen hätte? Sie durch- bricht die Schrancken, die dein erleuchteter Ver- stand ihr sonst setzet, und reist ihren Führer mit da- hin. Sie stellet dir Dinge, die nicht sind, so leb- haft vor, als wären sie da. Du bildest dir ein, aus- ser dir dasjenige zu sehen, das doch nur ein Geschö- pfe deiner erhöheten Einbildungs-Kraft, und ausser deinem bewegten Gehirn, dem Sammel- Platz aller Weißheit, nicht zu finden ist.
Du erblickest an der Decke unsers Saals die Ge- setze unserer Gesellschaft; da doch nicht ein Buchstab an derselben zu sehen ist. Jch befürchte nicht, daß du mir dieses leugnen werdest. Da du nu- mehro wieder zu dir selbst gekommen bist, siehest du
wohl,
(16)Seneca de Tranquillitate animi. Cap. XV.
(o)
ſelbſt iſt, nichts uͤbermenſchliches reden kan. Da- zu wird eine kleine Verruͤckung des Verſtandes unumgaͤnglich erfodert. Non poteſt grande ali- quid, ſagt Seneca, & ſupra ceteros loqui, niſi mo- ta mens. Cum vulgaria & ſolita contempſit, in- ſtinctuque ſacro ſurrexit excelſior, tunc demum aliquid cecinit grandius ore mortali. Non poteſt ſublime quicquam & in arduo poſitum continge- re, quamdiu apud ſe eſt. Deſciſcat oportet à ſo- lito, & efferatur, & mordeat frænos, & recto- rem rapiat ſuum, eoque ferat, quo per ſe timuiſ- ſet aſcendere(16). Und wuͤrdeſt du alſo, entzuͤck- ter Philippi, wohl ſo herrliche Dinge an der De- cke unſers Saals gewahr worden ſeyn, wenn nicht deine, durch eine unſichtbare Gewalt angefeurte Einbildungs-Kraft uͤber deine Sinnen und Ver- nunft, die Oberhand bekommen haͤtte? Sie durch- bricht die Schrancken, die dein erleuchteter Ver- ſtand ihr ſonſt ſetzet, und reiſt ihren Fuͤhrer mit da- hin. Sie ſtellet dir Dinge, die nicht ſind, ſo leb- haft vor, als waͤren ſie da. Du bildeſt dir ein, auſ- ſer dir dasjenige zu ſehen, das doch nur ein Geſchoͤ- pfe deiner erhoͤheten Einbildungs-Kraft, und auſſer deinem bewegten Gehirn, dem Sammel- Platz aller Weißheit, nicht zu finden iſt.
Du erblickeſt an der Decke unſers Saals die Ge- ſetze unſerer Geſellſchaft; da doch nicht ein Buchſtab an derſelben zu ſehen iſt. Jch befuͤrchte nicht, daß du mir dieſes leugnen werdeſt. Da du nu- mehro wieder zu dir ſelbſt gekommen biſt, ſieheſt du
wohl,
(16)Seneca de Tranquillitate animi. Cap. XV.
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ſelbſt iſt, nichts uͤbermenſchliches reden kan. Da-
zu wird eine kleine Verruͤckung des Verſtandes
unumgaͤnglich erfodert. Non poteſt grande ali-
quid, ſagt Seneca, & ſupra ceteros loqui, niſi mo-
ta mens. Cum vulgaria & ſolita contempſit, in-
ſtinctuque ſacro ſurrexit excelſior, tunc demum
aliquid cecinit grandius ore mortali. Non poteſt
ſublime quicquam & in arduo poſitum continge-
re, quamdiu apud ſe eſt. Deſciſcat oportet à ſo-
lito, & efferatur, & mordeat frænos, & recto-
rem rapiat ſuum, eoque ferat, quo per ſe timuiſ-
ſet aſcendere (16). Und wuͤrdeſt du alſo, entzuͤck-
ter Philippi, wohl ſo herrliche Dinge an der De-
cke unſers Saals gewahr worden ſeyn, wenn nicht
deine, durch eine unſichtbare Gewalt angefeurte
Einbildungs-Kraft uͤber deine Sinnen und Ver-
nunft, die Oberhand bekommen haͤtte? Sie durch-
bricht die Schrancken, die dein erleuchteter Ver-
ſtand ihr ſonſt ſetzet, und reiſt ihren Fuͤhrer mit da-
hin. Sie ſtellet dir Dinge, die nicht ſind, ſo leb-
haft vor, als waͤren ſie da. Du bildeſt dir ein, auſ-
ſer dir dasjenige zu ſehen, das doch nur ein Geſchoͤ-
pfe deiner erhoͤheten Einbildungs-Kraft, und
auſſer deinem bewegten Gehirn, dem Sammel-
Platz aller Weißheit, nicht zu finden iſt.
Du erblickeſt an der Decke unſers Saals die Ge-
ſetze unſerer Geſellſchaft; da doch nicht ein
Buchſtab an derſelben zu ſehen iſt. Jch befuͤrchte
nicht, daß du mir dieſes leugnen werdeſt. Da du nu-
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/464>, abgerufen am 22.11.2024.
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