Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915.Täuschung vorhanden, nur waren sie über das Reif werden So ging denn die Arbeit kräftig weiter. Zahlreiche öffentliche Zu dieser Stärkung der Stimmrechtsbewegung kam eine Täuschung vorhanden, nur waren sie über das Reif werden So ging denn die Arbeit kräftig weiter. Zahlreiche öffentliche Zu dieser Stärkung der Stimmrechtsbewegung kam eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0005" n="5"/> Täuschung vorhanden, nur waren sie über das Reif <hi rendition="#g">werden</hi><lb/> durchaus anderer Ansicht. „Reif werden‟ konnten die deutschen<lb/> Frauen nur, wenn ihre Augen endlich aus den engen Grenzen des<lb/> Hauses und still-bescheidener Wohlfahrtsbestrebungen auf das<lb/><hi rendition="#g">Staatsganze</hi>, seine Kämpfe, seine großen Zwecke gerichtet<lb/> wurden. Nur so konnte der <hi rendition="#g">Wille zur Politik</hi> in ihnen <choice><sic>er</sic><corr>er-</corr></choice><lb/> wachen. Aus diesem Willen allein kann vertieftes Jnteresse und<lb/> Mitarbeit fließen. Die Entwicklungen im Arbeiter- und Bürger-<lb/> stande aber zeigten auch, daß weite Kreise der Männer das höchste<lb/> politische Recht in ganz unreifem Zustand erhalten hatten und daß<lb/> auch von ihnen das Wort Kant's galt: „Man kann nicht zur Freiheit<lb/> reifen, wenn man nicht in Freiheit gesetzt wird.‟</p><lb/> <p>So ging denn die Arbeit kräftig weiter. Zahlreiche öffentliche<lb/> Versammlungen, auch zu politischen Fragen allgemeiner Natur,<lb/> wurden berufen. Eine sehr wesentliche Unterstützung erfuhr die<lb/> ganze Bewegung durch die großen Wandlungen, die in der sozialen<lb/> Frauenbewegung im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahr-<lb/> hunderts vor sich gingen. Die Armut der Ziele war vorüber. Frau<lb/> Bieber-Böhm hatte den Mut gehabt, die festen, schweren Hüllen<lb/> von der tiefsten Schmach des Weibes fortzuziehen. Mit Entsetzen<lb/> starrten die ahnungslosen Frauen in den Abgrund der Prostitution.<lb/> Endlich begriffen sie, was Frauenbewegung eigentlich heißt, und<lb/> was sie will, nämlich durchaus <hi rendition="#g">neue</hi> Grundlagen für die vom<lb/> Manne, für Männer geschaffene Gesellschaft. So gab's ein Auf-<lb/> rütteln der alten, verträumt-idealistischen Bewegung. Die Stimm-<lb/> rechtlerinnen gingen auch auf <hi rendition="#g">diesem</hi> Wege führend voran. Der<lb/> Verein „Frauenwohl, Berlin‟ berief die ersten ominösen Versamm-<lb/> lungen zur <hi rendition="#g">Sittlichkeitsfrage</hi> und bald folgten andere<lb/> Städte, vor allem Hamburg, nach. Es war nicht schwer nachzu-<lb/> weisen, daß der fehlende Einfluß der Frau auf die Gesetzgebung,<lb/> die völlige <hi rendition="#g">rechtliche</hi> Erniedrigung des Weibes, zu so un-<lb/> geheuerlichen Mißständen geführt hatte.</p><lb/> <p>Zu dieser Stärkung der Stimmrechtsbewegung kam eine<lb/> andere, mindestens ebenso kraftvolle. Frau <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118668838">Cauer</persName> und Frau<lb/> Jeanette Schwerin hatten das sozialpolitische Jnteresse an der<lb/><hi rendition="#g">Arbeiterinnenbewegung</hi> geweckt, und auch hier sahen<lb/> die Frauen in eine neue Welt: in eine Welt voll Not und harter<lb/> Bedrückung. Die deutsche Sozialpolitik aber hatte ihre ersten<lb/> großen Linien abgesteckt, und jeder denkende Deutsche wußte, daß<lb/> nur auf dem Boden des Gesetzes für die Arbeiterinnen Schutz und<lb/> Emporentwicklung zu hoffen sei. Es war oft ergreifend zu sehen,<lb/>   </p> </div> </body> </text> </TEI> [5/0005]
Täuschung vorhanden, nur waren sie über das Reif werden
durchaus anderer Ansicht. „Reif werden‟ konnten die deutschen
Frauen nur, wenn ihre Augen endlich aus den engen Grenzen des
Hauses und still-bescheidener Wohlfahrtsbestrebungen auf das
Staatsganze, seine Kämpfe, seine großen Zwecke gerichtet
wurden. Nur so konnte der Wille zur Politik in ihnen er-
wachen. Aus diesem Willen allein kann vertieftes Jnteresse und
Mitarbeit fließen. Die Entwicklungen im Arbeiter- und Bürger-
stande aber zeigten auch, daß weite Kreise der Männer das höchste
politische Recht in ganz unreifem Zustand erhalten hatten und daß
auch von ihnen das Wort Kant's galt: „Man kann nicht zur Freiheit
reifen, wenn man nicht in Freiheit gesetzt wird.‟
So ging denn die Arbeit kräftig weiter. Zahlreiche öffentliche
Versammlungen, auch zu politischen Fragen allgemeiner Natur,
wurden berufen. Eine sehr wesentliche Unterstützung erfuhr die
ganze Bewegung durch die großen Wandlungen, die in der sozialen
Frauenbewegung im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahr-
hunderts vor sich gingen. Die Armut der Ziele war vorüber. Frau
Bieber-Böhm hatte den Mut gehabt, die festen, schweren Hüllen
von der tiefsten Schmach des Weibes fortzuziehen. Mit Entsetzen
starrten die ahnungslosen Frauen in den Abgrund der Prostitution.
Endlich begriffen sie, was Frauenbewegung eigentlich heißt, und
was sie will, nämlich durchaus neue Grundlagen für die vom
Manne, für Männer geschaffene Gesellschaft. So gab's ein Auf-
rütteln der alten, verträumt-idealistischen Bewegung. Die Stimm-
rechtlerinnen gingen auch auf diesem Wege führend voran. Der
Verein „Frauenwohl, Berlin‟ berief die ersten ominösen Versamm-
lungen zur Sittlichkeitsfrage und bald folgten andere
Städte, vor allem Hamburg, nach. Es war nicht schwer nachzu-
weisen, daß der fehlende Einfluß der Frau auf die Gesetzgebung,
die völlige rechtliche Erniedrigung des Weibes, zu so un-
geheuerlichen Mißständen geführt hatte.
Zu dieser Stärkung der Stimmrechtsbewegung kam eine
andere, mindestens ebenso kraftvolle. Frau Cauer und Frau
Jeanette Schwerin hatten das sozialpolitische Jnteresse an der
Arbeiterinnenbewegung geweckt, und auch hier sahen
die Frauen in eine neue Welt: in eine Welt voll Not und harter
Bedrückung. Die deutsche Sozialpolitik aber hatte ihre ersten
großen Linien abgesteckt, und jeder denkende Deutsche wußte, daß
nur auf dem Boden des Gesetzes für die Arbeiterinnen Schutz und
Emporentwicklung zu hoffen sei. Es war oft ergreifend zu sehen,
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(2015-05-11T12:53:44Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition.
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