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Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883].

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An unserm Außendeich steht nur vereinzelt ein Haus,
von kleinen Leuten bewohnt. Als wir bei dem ersten vor-
beikommen, ruft ein Hahn seinen Hennen: Gluckukukukukukuk:
Paßt auf. Die Hennen, diese ewig fressenden Tiere, picken
und scharren ruhig weiter. Henning sieht mit schiefem Kamm
zu uns hinauf, verwickelt dabei den rechten Sporn in einen
Strohhalm, sucht sich, erbost, zu befreien, kreist und fällt um.
Wer hat einen umfallenden Hahn gesehen?

Auf dem Strohdache der Kathe sitzen die Stare in ihrem
süßen Geplauder.

Wie still ist es. Aus den Marschen dringt kaum ein
Ton, von einigen Höfen klingt das Glucksen der Kalkuttischen
Hühner herüber; zuweilen Kinderlachen von einer Werft.
Der Wind, natürlich Westwind, hat sich gelegt; Regenwolken
ziehen langsam am Himmel.

"Dor, dor ... dor is't" ruft plötzlich Düke Nommsen,
der Strandvogt. Ich hatte in die Marsch hinuntergeschaut,
und nun wieder meinen Kopf nach Westen und Nordwesten
wendend, habe ich einen sonderbaren Anblick: Auf dem Deiche,
hundert Schritt vor uns, stehen etwa zwanzig Menschen mit
allen Zeichen der Neugier, der Furcht, des Abwehrens, der
Beratung. Sie kommen mir wie eine Gruppe Wilder vor,
deren einsame Insel eben ein Fremdling, mit erstem Sprung
aus dem Boote, betritt.

"Dor, dor ... dor is't" ruft wieder Nommsen und
zeigt mit dem Finger auf den Strand. Etwas Schwarzes,
etwas Weißes liegt dort; mehr erkenne ich noch nicht. Ich
bin bei den Bauern angekommen, und sehe, daß unten, mit
ausgebreiteten Armen, Ertrunkene liegen.

Keiner von den Zuschauern ist zu bereden, mit mir hin-
unter zu steigen. Ich gehe allein auf die Leichen zu. Ah ...
ich prallte zurück: das hatte ich nicht erwartet. Dann fest
drauf los:

Auf einer breiten weißen Planke lagen, neben einander
zwei Menschen, gekreuzigt: Ein junges, weißes, zierlich ge-

An unſerm Außendeich ſteht nur vereinzelt ein Haus,
von kleinen Leuten bewohnt. Als wir bei dem erſten vor-
beikommen, ruft ein Hahn ſeinen Hennen: Gluckukukukukukuk:
Paßt auf. Die Hennen, dieſe ewig freſſenden Tiere, picken
und ſcharren ruhig weiter. Henning ſieht mit ſchiefem Kamm
zu uns hinauf, verwickelt dabei den rechten Sporn in einen
Strohhalm, ſucht ſich, erboſt, zu befreien, kreiſt und fällt um.
Wer hat einen umfallenden Hahn geſehen?

Auf dem Strohdache der Kathe ſitzen die Stare in ihrem
ſüßen Geplauder.

Wie ſtill iſt es. Aus den Marſchen dringt kaum ein
Ton, von einigen Höfen klingt das Gluckſen der Kalkuttiſchen
Hühner herüber; zuweilen Kinderlachen von einer Werft.
Der Wind, natürlich Weſtwind, hat ſich gelegt; Regenwolken
ziehen langſam am Himmel.

„Dor, dor … dor iſ’t“ ruft plötzlich Düke Nommſen,
der Strandvogt. Ich hatte in die Marſch hinuntergeſchaut,
und nun wieder meinen Kopf nach Weſten und Nordweſten
wendend, habe ich einen ſonderbaren Anblick: Auf dem Deiche,
hundert Schritt vor uns, ſtehen etwa zwanzig Menſchen mit
allen Zeichen der Neugier, der Furcht, des Abwehrens, der
Beratung. Sie kommen mir wie eine Gruppe Wilder vor,
deren einſame Inſel eben ein Fremdling, mit erſtem Sprung
aus dem Boote, betritt.

„Dor, dor … dor iſ’t“ ruft wieder Nommſen und
zeigt mit dem Finger auf den Strand. Etwas Schwarzes,
etwas Weißes liegt dort; mehr erkenne ich noch nicht. Ich
bin bei den Bauern angekommen, und ſehe, daß unten, mit
ausgebreiteten Armen, Ertrunkene liegen.

Keiner von den Zuſchauern iſt zu bereden, mit mir hin-
unter zu ſteigen. Ich gehe allein auf die Leichen zu. Ah …
ich prallte zurück: das hatte ich nicht erwartet. Dann feſt
drauf los:

Auf einer breiten weißen Planke lagen, neben einander
zwei Menſchen, gekreuzigt: Ein junges, weißes, zierlich ge-

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[137/0145] An unſerm Außendeich ſteht nur vereinzelt ein Haus, von kleinen Leuten bewohnt. Als wir bei dem erſten vor- beikommen, ruft ein Hahn ſeinen Hennen: Gluckukukukukukuk: Paßt auf. Die Hennen, dieſe ewig freſſenden Tiere, picken und ſcharren ruhig weiter. Henning ſieht mit ſchiefem Kamm zu uns hinauf, verwickelt dabei den rechten Sporn in einen Strohhalm, ſucht ſich, erboſt, zu befreien, kreiſt und fällt um. Wer hat einen umfallenden Hahn geſehen? Auf dem Strohdache der Kathe ſitzen die Stare in ihrem ſüßen Geplauder. Wie ſtill iſt es. Aus den Marſchen dringt kaum ein Ton, von einigen Höfen klingt das Gluckſen der Kalkuttiſchen Hühner herüber; zuweilen Kinderlachen von einer Werft. Der Wind, natürlich Weſtwind, hat ſich gelegt; Regenwolken ziehen langſam am Himmel. „Dor, dor … dor iſ’t“ ruft plötzlich Düke Nommſen, der Strandvogt. Ich hatte in die Marſch hinuntergeſchaut, und nun wieder meinen Kopf nach Weſten und Nordweſten wendend, habe ich einen ſonderbaren Anblick: Auf dem Deiche, hundert Schritt vor uns, ſtehen etwa zwanzig Menſchen mit allen Zeichen der Neugier, der Furcht, des Abwehrens, der Beratung. Sie kommen mir wie eine Gruppe Wilder vor, deren einſame Inſel eben ein Fremdling, mit erſtem Sprung aus dem Boote, betritt. „Dor, dor … dor iſ’t“ ruft wieder Nommſen und zeigt mit dem Finger auf den Strand. Etwas Schwarzes, etwas Weißes liegt dort; mehr erkenne ich noch nicht. Ich bin bei den Bauern angekommen, und ſehe, daß unten, mit ausgebreiteten Armen, Ertrunkene liegen. Keiner von den Zuſchauern iſt zu bereden, mit mir hin- unter zu ſteigen. Ich gehe allein auf die Leichen zu. Ah … ich prallte zurück: das hatte ich nicht erwartet. Dann feſt drauf los: Auf einer breiten weißen Planke lagen, neben einander zwei Menſchen, gekreuzigt: Ein junges, weißes, zierlich ge-

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Zitationshilfe: Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883], S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liliencron_adjutantenritte_1883/145>, abgerufen am 27.11.2024.