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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Serailregiments -- Mahmud Damat -- der Schwager des Sul-
tans, der eigentliche Lenker des Krieges, absolut dasselbe, als ob das
russische Kabinet direkt den Krieg gegen sich selbst dirigirt
hätte.
Die systematische Paralysirung und Compromittirung der tür-
kischen Armee durch diesen Burschen kann bis ins kleinste Detail nach-
gewiesen werden. Uebrigens ist's allbekannt in Konstantinopel und dies
erhöht die historische Schuld der Türken. Ein Volk, welches in
solchen Momenten der höchsten Krise nicht revolutionär dreinzufahren
weiß, ist verloren. Die russische Regierung wußte, was ihr der Damat
werth war; sie hat mehr Strategie und Taktik angewandt, um
den Midhat Pascha
von Constantinopel entfernt, und den Damat
am Regierungsruder zu halten, als wie Plewna zu nehmen.

Natürlich im Hintergrund des russischen Erfolges steht -- Bis-
marck.
Er stiftete den Dreikaiserbund, durch welchen Oestreich
ruhig gehalten wurde. Selbst nach dem Fall Plewnas hatte Oestreich
nur 100,000 Mann aufzustellen -- und die Russen hätten sich stille
zurückziehen oder sich mit den bescheidensten Resultaten begnügen müssen.
Oestreichs Abdankung gab von vornherein der russischen Partei in
England das Oberwasser, da Frankreich (in Folge der von Herrn
Gladstone, damals Premierminister, geförderten Post-Sedan'schen Kata-
strophe -- Katastrophe nach Sedan) als continentale Militärmacht
nicht mehr für England existirte.

Die Folge ist einfach die Auflösung Oesterreichs, die unver-
meidlich ist, wenn die russischen Friedensbedingungen angenommen werden
und damit die Türkei (wenigstens in Europa) nur noch formell fort-
existiren wird. Die Türkei bildete den Damm Oestreichs gegen
Rußland
und sein slavisches Gefolge. Also zunächst wird man wohl
im geeigneten Moment sich "Böhmen" ausbitten.

Aber Preußen als Preußen -- also in seinem spezifischen Gegensatz
zu Deutschland -- hat noch andere Jnteressen: Preußen als solches ist
seine Dynastie,
ist geworden und ist auf russischer "Hinter-
lage
", was es ist. Niederlage Rußlands, Revolution in Rußland --
wäre das Todtengeläute für Preußen.

Sonst hätte wohl selbst Herr von Bismarck nach dem großen
Sieg über Frankreich, nachdem Preußen die erste Militärmacht Europa's
geworden, ihm nicht wieder dieselbe Stellung gegenüber Rußland ange-
wiesen, die es als fünftes Rad am europäischen Staatswagen 1815
einnahm.

Endlich ist für solche große Männer, wie Bismarck, Molkte etc. die
persönliche Wichtigkeit, welche die jetzt eröffnete Aufeinander-
folge europäischer Kriege
in Aussicht stellt, -- -- -- keineswegs
etwas Gleichgültiges.

Serailregiments — Mahmud Damat — der Schwager des Sul-
tans, der eigentliche Lenker des Krieges, abſolut daſſelbe, als ob das
ruſſiſche Kabinet direkt den Krieg gegen ſich ſelbſt dirigirt
hätte.
Die ſyſtematiſche Paralyſirung und Compromittirung der tür-
kiſchen Armee durch dieſen Burſchen kann bis ins kleinſte Detail nach-
gewieſen werden. Uebrigens iſt’s allbekannt in Konſtantinopel und dies
erhöht die hiſtoriſche Schuld der Türken. Ein Volk, welches in
ſolchen Momenten der höchſten Kriſe nicht revolutionär dreinzufahren
weiß, iſt verloren. Die ruſſiſche Regierung wußte, was ihr der Damat
werth war; ſie hat mehr Strategie und Taktik angewandt, um
den Midhat Paſcha
von Conſtantinopel entfernt, und den Damat
am Regierungsruder zu halten, als wie Plewna zu nehmen.

Natürlich im Hintergrund des ruſſiſchen Erfolges ſteht — Bis-
marck.
Er ſtiftete den Dreikaiſerbund, durch welchen Oeſtreich
ruhig gehalten wurde. Selbſt nach dem Fall Plewnas hatte Oeſtreich
nur 100,000 Mann aufzuſtellen — und die Ruſſen hätten ſich ſtille
zurückziehen oder ſich mit den beſcheidenſten Reſultaten begnügen müſſen.
Oeſtreichs Abdankung gab von vornherein der ruſſiſchen Partei in
England das Oberwaſſer, da Frankreich (in Folge der von Herrn
Gladſtone, damals Premierminiſter, geförderten Poſt-Sedan’ſchen Kata-
ſtrophe — Kataſtrophe nach Sedan) als continentale Militärmacht
nicht mehr für England exiſtirte.

Die Folge iſt einfach die Auflöſung Oeſterreichs, die unver-
meidlich iſt, wenn die ruſſiſchen Friedensbedingungen angenommen werden
und damit die Türkei (wenigſtens in Europa) nur noch formell fort-
exiſtiren wird. Die Türkei bildete den Damm Oeſtreichs gegen
Rußland
und ſein ſlaviſches Gefolge. Alſo zunächſt wird man wohl
im geeigneten Moment ſich „Böhmen‟ ausbitten.

Aber Preußen als Preußen — alſo in ſeinem ſpezifiſchen Gegenſatz
zu Deutſchland — hat noch andere Jntereſſen: Preußen als ſolches iſt
ſeine Dynaſtie,
iſt geworden und iſt auf ruſſiſcher „Hinter-
lage
‟, was es iſt. Niederlage Rußlands, Revolution in Rußland —
wäre das Todtengeläute für Preußen.

Sonſt hätte wohl ſelbſt Herr von Bismarck nach dem großen
Sieg über Frankreich, nachdem Preußen die erſte Militärmacht Europa’s
geworden, ihm nicht wieder dieſelbe Stellung gegenüber Rußland ange-
wieſen, die es als fünftes Rad am europäiſchen Staatswagen 1815
einnahm.

Endlich iſt für ſolche große Männer, wie Bismarck, Molkte ꝛc. die
perſönliche Wichtigkeit, welche die jetzt eröffnete Aufeinander-
folge europäiſcher Kriege
in Ausſicht ſtellt, — — — keineswegs
etwas Gleichgültiges.

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[58/0062] Serailregiments — Mahmud Damat — der Schwager des Sul- tans, der eigentliche Lenker des Krieges, abſolut daſſelbe, als ob das ruſſiſche Kabinet direkt den Krieg gegen ſich ſelbſt dirigirt hätte. Die ſyſtematiſche Paralyſirung und Compromittirung der tür- kiſchen Armee durch dieſen Burſchen kann bis ins kleinſte Detail nach- gewieſen werden. Uebrigens iſt’s allbekannt in Konſtantinopel und dies erhöht die hiſtoriſche Schuld der Türken. Ein Volk, welches in ſolchen Momenten der höchſten Kriſe nicht revolutionär dreinzufahren weiß, iſt verloren. Die ruſſiſche Regierung wußte, was ihr der Damat werth war; ſie hat mehr Strategie und Taktik angewandt, um den Midhat Paſcha von Conſtantinopel entfernt, und den Damat am Regierungsruder zu halten, als wie Plewna zu nehmen. Natürlich im Hintergrund des ruſſiſchen Erfolges ſteht — Bis- marck. Er ſtiftete den Dreikaiſerbund, durch welchen Oeſtreich ruhig gehalten wurde. Selbſt nach dem Fall Plewnas hatte Oeſtreich nur 100,000 Mann aufzuſtellen — und die Ruſſen hätten ſich ſtille zurückziehen oder ſich mit den beſcheidenſten Reſultaten begnügen müſſen. Oeſtreichs Abdankung gab von vornherein der ruſſiſchen Partei in England das Oberwaſſer, da Frankreich (in Folge der von Herrn Gladſtone, damals Premierminiſter, geförderten Poſt-Sedan’ſchen Kata- ſtrophe — Kataſtrophe nach Sedan) als continentale Militärmacht nicht mehr für England exiſtirte. Die Folge iſt einfach die Auflöſung Oeſterreichs, die unver- meidlich iſt, wenn die ruſſiſchen Friedensbedingungen angenommen werden und damit die Türkei (wenigſtens in Europa) nur noch formell fort- exiſtiren wird. Die Türkei bildete den Damm Oeſtreichs gegen Rußland und ſein ſlaviſches Gefolge. Alſo zunächſt wird man wohl im geeigneten Moment ſich „Böhmen‟ ausbitten. Aber Preußen als Preußen — alſo in ſeinem ſpezifiſchen Gegenſatz zu Deutſchland — hat noch andere Jntereſſen: Preußen als ſolches iſt ſeine Dynaſtie, iſt geworden und iſt auf ruſſiſcher „Hinter- lage‟, was es iſt. Niederlage Rußlands, Revolution in Rußland — wäre das Todtengeläute für Preußen. Sonſt hätte wohl ſelbſt Herr von Bismarck nach dem großen Sieg über Frankreich, nachdem Preußen die erſte Militärmacht Europa’s geworden, ihm nicht wieder dieſelbe Stellung gegenüber Rußland ange- wieſen, die es als fünftes Rad am europäiſchen Staatswagen 1815 einnahm. Endlich iſt für ſolche große Männer, wie Bismarck, Molkte ꝛc. die perſönliche Wichtigkeit, welche die jetzt eröffnete Aufeinander- folge europäiſcher Kriege in Ausſicht ſtellt, — — — keineswegs etwas Gleichgültiges.

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/62>, abgerufen am 24.11.2024.