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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Da haben wir das Geheimniß der russischen Erfolge. Rußland
vertritt ein Prinzip, vertritt es starr und konsequent: das Prinzip des
Despotismus; dieses Prinzip kann nur durch das entgegengesetzte:
das Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit überwunden
werden; und diesem Prinzip sind die übrigen Mächte ebenso feindlich,
wie Rußland es ist, feindlicher als sie Rußland sind. Wenn die Re-
gierungen Oestreichs, Englands, Frankreichs klar und nett vor die
Alternative gestellt würden: kossakisch oder demokratisch -- sie würden
unbedingt und ohne sich zu besinnen antworten: kossakisch! Gerade wie
die französischen Bourgeois in Paris 1870 und 1871 dachten und sagten:
lieber Bismarck und die Prussiens als die sozialistischen Pariser.

Jndeß wenn auch von den jetzigen Staaten kein radikales Vor-
gehen gegen Rußland zu erwarten ist, so folgt daraus doch nicht, daß
man fatalistisch die Hände in den Schooß legen solle. Es ist richtig:
die russische Macht kann nur bis zu einem gewissen Punkt anschwellen,
und dann muß von Seiten der erwachten und mündig gewordenen
Völker der vernichtende Rückschlag kommen, aber die Frist bis zu diesem
Rückschlag wird dadurch, daß man den Völkern die Tragweite der
orientalischen Frage zeigt, wesentlich abgekürzt.

Ein schweizerisches Parteiorgan hat, -- ich weiß nicht -- ob mit
Bezugnahme auf meine Broschüre, die Frage: Soll Europa kossakisch
werden? als eine "etwas kleinmüthige" bezeichnet. Mich trifft der Vor-
wurf jedenfalls nicht. Jch weiß so gut wie Einer, daß die russischen
Bäume nicht in den Himmel wachsen und daß der Tag des Gerichts
nicht ausbleiben kann; aber ich weiß auch, daß es die schlechteste Politik
von der Welt ist, einen Feind zu unterschätzen, und, im philosophischen
Vertrauen darauf, daß er schließlich doch erliegen müsse, auf seine
Bekämpfung zu verzichten. Oder sollen wir der famosen Maxime des
Exmitgliedes des Communistenbundes und heutigen "Communisten" (in
Gänsfüßchen) Miquel huldigen, der unter die "Gründer" gegangen
ist, um den Kapitalismus auf die Spitze zu treiben und so seinen Sturz
zu beschleunigen?

Wer nicht an die russische Gefahr glaubt, der lese in Kolb's
Statistik den ziffernmäßigen Nachweis von Rußlands wahrhaft lawinen-
artigem Wachsen und Vordrängen. Hier nur einige Ziffern:

Die Entfernung von der russischen Grenze

[Tabelle]

Da haben wir das Geheimniß der ruſſiſchen Erfolge. Rußland
vertritt ein Prinzip, vertritt es ſtarr und konſequent: das Prinzip des
Despotismus; dieſes Prinzip kann nur durch das entgegengeſetzte:
das Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit überwunden
werden; und dieſem Prinzip ſind die übrigen Mächte ebenſo feindlich,
wie Rußland es iſt, feindlicher als ſie Rußland ſind. Wenn die Re-
gierungen Oeſtreichs, Englands, Frankreichs klar und nett vor die
Alternative geſtellt würden: koſſakiſch oder demokratiſch — ſie würden
unbedingt und ohne ſich zu beſinnen antworten: koſſakiſch! Gerade wie
die franzöſiſchen Bourgeois in Paris 1870 und 1871 dachten und ſagten:
lieber Bismarck und die Pruſſiens als die ſozialiſtiſchen Pariſer.

Jndeß wenn auch von den jetzigen Staaten kein radikales Vor-
gehen gegen Rußland zu erwarten iſt, ſo folgt daraus doch nicht, daß
man fataliſtiſch die Hände in den Schooß legen ſolle. Es iſt richtig:
die ruſſiſche Macht kann nur bis zu einem gewiſſen Punkt anſchwellen,
und dann muß von Seiten der erwachten und mündig gewordenen
Völker der vernichtende Rückſchlag kommen, aber die Friſt bis zu dieſem
Rückſchlag wird dadurch, daß man den Völkern die Tragweite der
orientaliſchen Frage zeigt, weſentlich abgekürzt.

Ein ſchweizeriſches Parteiorgan hat, — ich weiß nicht — ob mit
Bezugnahme auf meine Broſchüre, die Frage: Soll Europa koſſakiſch
werden? als eine „etwas kleinmüthige‟ bezeichnet. Mich trifft der Vor-
wurf jedenfalls nicht. Jch weiß ſo gut wie Einer, daß die ruſſiſchen
Bäume nicht in den Himmel wachſen und daß der Tag des Gerichts
nicht ausbleiben kann; aber ich weiß auch, daß es die ſchlechteſte Politik
von der Welt iſt, einen Feind zu unterſchätzen, und, im philoſophiſchen
Vertrauen darauf, daß er ſchließlich doch erliegen müſſe, auf ſeine
Bekämpfung zu verzichten. Oder ſollen wir der famoſen Maxime des
Exmitgliedes des Communiſtenbundes und heutigen „Communiſten‟ (in
Gänsfüßchen) Miquel huldigen, der unter die „Gründer‟ gegangen
iſt, um den Kapitalismus auf die Spitze zu treiben und ſo ſeinen Sturz
zu beſchleunigen?

Wer nicht an die ruſſiſche Gefahr glaubt, der leſe in Kolb’s
Statiſtik den ziffernmäßigen Nachweis von Rußlands wahrhaft lawinen-
artigem Wachſen und Vordrängen. Hier nur einige Ziffern:

Die Entfernung von der ruſſiſchen Grenze

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[49/0053] Da haben wir das Geheimniß der ruſſiſchen Erfolge. Rußland vertritt ein Prinzip, vertritt es ſtarr und konſequent: das Prinzip des Despotismus; dieſes Prinzip kann nur durch das entgegengeſetzte: das Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit überwunden werden; und dieſem Prinzip ſind die übrigen Mächte ebenſo feindlich, wie Rußland es iſt, feindlicher als ſie Rußland ſind. Wenn die Re- gierungen Oeſtreichs, Englands, Frankreichs klar und nett vor die Alternative geſtellt würden: koſſakiſch oder demokratiſch — ſie würden unbedingt und ohne ſich zu beſinnen antworten: koſſakiſch! Gerade wie die franzöſiſchen Bourgeois in Paris 1870 und 1871 dachten und ſagten: lieber Bismarck und die Pruſſiens als die ſozialiſtiſchen Pariſer. Jndeß wenn auch von den jetzigen Staaten kein radikales Vor- gehen gegen Rußland zu erwarten iſt, ſo folgt daraus doch nicht, daß man fataliſtiſch die Hände in den Schooß legen ſolle. Es iſt richtig: die ruſſiſche Macht kann nur bis zu einem gewiſſen Punkt anſchwellen, und dann muß von Seiten der erwachten und mündig gewordenen Völker der vernichtende Rückſchlag kommen, aber die Friſt bis zu dieſem Rückſchlag wird dadurch, daß man den Völkern die Tragweite der orientaliſchen Frage zeigt, weſentlich abgekürzt. Ein ſchweizeriſches Parteiorgan hat, — ich weiß nicht — ob mit Bezugnahme auf meine Broſchüre, die Frage: Soll Europa koſſakiſch werden? als eine „etwas kleinmüthige‟ bezeichnet. Mich trifft der Vor- wurf jedenfalls nicht. Jch weiß ſo gut wie Einer, daß die ruſſiſchen Bäume nicht in den Himmel wachſen und daß der Tag des Gerichts nicht ausbleiben kann; aber ich weiß auch, daß es die ſchlechteſte Politik von der Welt iſt, einen Feind zu unterſchätzen, und, im philoſophiſchen Vertrauen darauf, daß er ſchließlich doch erliegen müſſe, auf ſeine Bekämpfung zu verzichten. Oder ſollen wir der famoſen Maxime des Exmitgliedes des Communiſtenbundes und heutigen „Communiſten‟ (in Gänsfüßchen) Miquel huldigen, der unter die „Gründer‟ gegangen iſt, um den Kapitalismus auf die Spitze zu treiben und ſo ſeinen Sturz zu beſchleunigen? Wer nicht an die ruſſiſche Gefahr glaubt, der leſe in Kolb’s Statiſtik den ziffernmäßigen Nachweis von Rußlands wahrhaft lawinen- artigem Wachſen und Vordrängen. Hier nur einige Ziffern: Die Entfernung von der ruſſiſchen Grenze

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/53>, abgerufen am 23.11.2024.