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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Was man vor 23 Jahren in Wien für nöthig hielt, kann es unter
ähnlichen Bedingungen nicht auch heute als nöthig erkannt werden?

Kurz, Deutschland hätte aller Voraussicht nach nicht nur keine
Hülfe von Rußland zu erwarten, sondern sogar Rußland noch Hülfe
zu leisten. Es hätte also mit geschwächten Kräften zugleich Frankreich,
Oesterreich und England zu bekämpfen. Die Partie ist so unegal, daß
man die Möglichkeit, auf sie einzugehen, leugnen möchte.

Und doch!



III.
("Socialdemokratische Correspondenz" vom 22. November 1877.)

Die soeben gemeldete Erstürmung von Kars wird unzweifel-
haft in England einen tiefen Eindruck hervorbringen und den Jnter-
ventionsabsichten des Ministeriums Disraeli kräftigen Vorschub leisten.
Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, die Macht Englands und
des jetzigen Tory-Kabinets in nicht zu rechtfertigender Weise zu unter-
schätzen. Seit den Kriegen gegen den ersten Napoleon, in denen Eng-
land eine leitende Rolle spielte, haben die Hülfsquellen Englands, wie
die Statistik zeigt, in höherem Maße zugenommen als die der übrigen
Großmächte Europas, und es fehlt also jeder vernünftige Grund für
die Annahme, England sei aus seiner früheren Macht-Stellung entweder
freiwillig herabgestiegen oder von ihr herabgedrängt worden. Ebenso
haltlos ist die weitverbreitete Annahme, das Torykabinet habe mit seiner
antirussischen Politik die öffentliche Meinung gegen sich, die durch Herrn
Gladstone und Konsorten repräsentirt werde. Es gehört eine vollstän-
dige Unkenntniß der englischen Verhältnisse dazu, um das Gewinsel
und Gezeter einer Handvoll ehrgeiziger Stellenjäger, "vaterlandsloser"
Bourgeois, vernagelter Pfaffen und philanthropischer Schwärmer für
die "Stimme Englands" zu halten. Herr Gladstone ist, trotz seiner
krampfhaften Anstrengungen, ohne jeglichen Einfluß auf den Gang der
Staatsgeschäfte und hat sich durch seine Agitation zu Gunsten Ruß-
lands, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch für den Rest seines Lebens
politisch unmöglich gemacht. Und was die "Türkengreuel-Bewegung"
angeht, so ist das eine Tages- und Modeepidemie wie jede andere.

Vor dem Krimkrieg hatten wir genau dieselbe Erscheinung;
damals schon spielte Gladstone, wenn auch weniger geräuschvoll und
weit vorsichtiger, dieselbe Rolle wie heute, und er hatte zu Helfers-
helfern die zwei geübtesten, und in bürgerlichen Kreisen populärsten,
Agitatoren Englands, die zwei Häupter der Anticornlaw-League (Liga
gegen die Korngesetze): Cobden und Bright, welche die Agita-

Was man vor 23 Jahren in Wien für nöthig hielt, kann es unter
ähnlichen Bedingungen nicht auch heute als nöthig erkannt werden?

Kurz, Deutſchland hätte aller Vorausſicht nach nicht nur keine
Hülfe von Rußland zu erwarten, ſondern ſogar Rußland noch Hülfe
zu leiſten. Es hätte alſo mit geſchwächten Kräften zugleich Frankreich,
Oeſterreich und England zu bekämpfen. Die Partie iſt ſo unegal, daß
man die Möglichkeit, auf ſie einzugehen, leugnen möchte.

Und doch!



III.
(„Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 22. November 1877.)

Die ſoeben gemeldete Erſtürmung von Kars wird unzweifel-
haft in England einen tiefen Eindruck hervorbringen und den Jnter-
ventionsabſichten des Miniſteriums Disraeli kräftigen Vorſchub leiſten.
Man hat ſich in Deutſchland daran gewöhnt, die Macht Englands und
des jetzigen Tory-Kabinets in nicht zu rechtfertigender Weiſe zu unter-
ſchätzen. Seit den Kriegen gegen den erſten Napoleon, in denen Eng-
land eine leitende Rolle ſpielte, haben die Hülfsquellen Englands, wie
die Statiſtik zeigt, in höherem Maße zugenommen als die der übrigen
Großmächte Europas, und es fehlt alſo jeder vernünftige Grund für
die Annahme, England ſei aus ſeiner früheren Macht-Stellung entweder
freiwillig herabgeſtiegen oder von ihr herabgedrängt worden. Ebenſo
haltlos iſt die weitverbreitete Annahme, das Torykabinet habe mit ſeiner
antiruſſiſchen Politik die öffentliche Meinung gegen ſich, die durch Herrn
Gladſtone und Konſorten repräſentirt werde. Es gehört eine vollſtän-
dige Unkenntniß der engliſchen Verhältniſſe dazu, um das Gewinſel
und Gezeter einer Handvoll ehrgeiziger Stellenjäger, „vaterlandsloſer‟
Bourgeois, vernagelter Pfaffen und philanthropiſcher Schwärmer für
die „Stimme Englands‟ zu halten. Herr Gladſtone iſt, trotz ſeiner
krampfhaften Anſtrengungen, ohne jeglichen Einfluß auf den Gang der
Staatsgeſchäfte und hat ſich durch ſeine Agitation zu Gunſten Ruß-
lands, aller Wahrſcheinlichkeit nach, auch für den Reſt ſeines Lebens
politiſch unmöglich gemacht. Und was die „Türkengreuel-Bewegung‟
angeht, ſo iſt das eine Tages- und Modeepidemie wie jede andere.

Vor dem Krimkrieg hatten wir genau dieſelbe Erſcheinung;
damals ſchon ſpielte Gladſtone, wenn auch weniger geräuſchvoll und
weit vorſichtiger, dieſelbe Rolle wie heute, und er hatte zu Helfers-
helfern die zwei geübteſten, und in bürgerlichen Kreiſen populärſten,
Agitatoren Englands, die zwei Häupter der Anticornlaw-League (Liga
gegen die Korngeſetze): Cobden und Bright, welche die Agita-

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[26/0030] Was man vor 23 Jahren in Wien für nöthig hielt, kann es unter ähnlichen Bedingungen nicht auch heute als nöthig erkannt werden? Kurz, Deutſchland hätte aller Vorausſicht nach nicht nur keine Hülfe von Rußland zu erwarten, ſondern ſogar Rußland noch Hülfe zu leiſten. Es hätte alſo mit geſchwächten Kräften zugleich Frankreich, Oeſterreich und England zu bekämpfen. Die Partie iſt ſo unegal, daß man die Möglichkeit, auf ſie einzugehen, leugnen möchte. Und doch! III. („Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 22. November 1877.) Die ſoeben gemeldete Erſtürmung von Kars wird unzweifel- haft in England einen tiefen Eindruck hervorbringen und den Jnter- ventionsabſichten des Miniſteriums Disraeli kräftigen Vorſchub leiſten. Man hat ſich in Deutſchland daran gewöhnt, die Macht Englands und des jetzigen Tory-Kabinets in nicht zu rechtfertigender Weiſe zu unter- ſchätzen. Seit den Kriegen gegen den erſten Napoleon, in denen Eng- land eine leitende Rolle ſpielte, haben die Hülfsquellen Englands, wie die Statiſtik zeigt, in höherem Maße zugenommen als die der übrigen Großmächte Europas, und es fehlt alſo jeder vernünftige Grund für die Annahme, England ſei aus ſeiner früheren Macht-Stellung entweder freiwillig herabgeſtiegen oder von ihr herabgedrängt worden. Ebenſo haltlos iſt die weitverbreitete Annahme, das Torykabinet habe mit ſeiner antiruſſiſchen Politik die öffentliche Meinung gegen ſich, die durch Herrn Gladſtone und Konſorten repräſentirt werde. Es gehört eine vollſtän- dige Unkenntniß der engliſchen Verhältniſſe dazu, um das Gewinſel und Gezeter einer Handvoll ehrgeiziger Stellenjäger, „vaterlandsloſer‟ Bourgeois, vernagelter Pfaffen und philanthropiſcher Schwärmer für die „Stimme Englands‟ zu halten. Herr Gladſtone iſt, trotz ſeiner krampfhaften Anſtrengungen, ohne jeglichen Einfluß auf den Gang der Staatsgeſchäfte und hat ſich durch ſeine Agitation zu Gunſten Ruß- lands, aller Wahrſcheinlichkeit nach, auch für den Reſt ſeines Lebens politiſch unmöglich gemacht. Und was die „Türkengreuel-Bewegung‟ angeht, ſo iſt das eine Tages- und Modeepidemie wie jede andere. Vor dem Krimkrieg hatten wir genau dieſelbe Erſcheinung; damals ſchon ſpielte Gladſtone, wenn auch weniger geräuſchvoll und weit vorſichtiger, dieſelbe Rolle wie heute, und er hatte zu Helfers- helfern die zwei geübteſten, und in bürgerlichen Kreiſen populärſten, Agitatoren Englands, die zwei Häupter der Anticornlaw-League (Liga gegen die Korngeſetze): Cobden und Bright, welche die Agita-

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/30>, abgerufen am 23.11.2024.