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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Völkermords beladene Rußland, das dieses Spiel am meisten zu
fürchten hat.

Was wird die nächste Zukunft uns bringen?

Wie lange wird es dauern, bis der Brand unserm eigenen Dach
naht, es ergreift?

Wird die "europäische Schachpartie" gespielt werden zwischen
Preußisch-Deutschland und Rußland einerseits, und Oestreich, Frank-
reich, England und der Türkei anderseits? Werden unsere Brüder
und Söhne, mit Baschkiren und Kalmucken zusammengekoppelt, "an der
Spitze der Civilisation zu marschiren" haben?

Was da kommen möge, die barbarischen Elemente, welche die
Kriegsfurie entfesselt haben, sind

-- ein Theil der Kraft

die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Ein Jahrhundert friedlicher Entwicklung hätte die Jmpotenz, die
Unmenschlichkeit, die Jmmoralität, die Widersinnigkeit der modernen
Diplomatie und "Staatsmannschaft" nicht so drastisch, so handgreiflich
ans Licht der Sonnen gebracht, als dieser diplomatische Hexensabbath
der letzten 18 Monate.

Und nun vorwärts auf der betretenen Bahn!

Während gesunder Menschenverstand, Recht, Humanität beschimpft,
die Saaten zerstampft, die Künste des Friedens geopfert werden --
plätschern am Bosporus, langsam anschwellend, die Wogen der Revolution,
und an der Newa und Wolga bohrt leise, unaufhaltsam "der Wurm
des Sozialismus" -- der Todtenwurm der heutigen Gesellschaft. Für
ewige Zeiten gilt nicht das alte: Delirant reges plectunter Achivi.
Die Fürsten rasen und die Völker werden geschlagen.



Testament Peters des Großen.

1. Die Russen müssen in einem fortwährenden Kriegszustande er-
halten werden, um die kriegerischen Neigungen des Heeres zu bewahren.
Keine Ruhe, außer um die Finanzen zu verbessern, das Heer zu rekru-
tiren und um den geeigneten Augenblick zum Angriff abzuwarten. Auf
diese Weise dient der Frieden für den Krieg und der Krieg für den
Frieden, im Jnteresse der Vergrößerung und des erhöhten Wohlstandes
von Rußland.

2. Wir müssen auf jede mögliche Weise aus den bestunterrichteten
Nationen Europas Generäle für die Zeit des Krieges und Gelehrte für
die Zeit des Friedens zu uns heranziehen, damit die russische Nation
von den Vorzügen der anderen Länder Vortheil ziehe, ohne einen Theil
der ihrigen zu verlieren.

Völkermords beladene Rußland, das dieſes Spiel am meiſten zu
fürchten hat.

Was wird die nächſte Zukunft uns bringen?

Wie lange wird es dauern, bis der Brand unſerm eigenen Dach
naht, es ergreift?

Wird die „europäiſche Schachpartie‟ geſpielt werden zwiſchen
Preußiſch-Deutſchland und Rußland einerſeits, und Oeſtreich, Frank-
reich, England und der Türkei anderſeits? Werden unſere Brüder
und Söhne, mit Baſchkiren und Kalmucken zuſammengekoppelt, „an der
Spitze der Civiliſation zu marſchiren‟ haben?

Was da kommen möge, die barbariſchen Elemente, welche die
Kriegsfurie entfeſſelt haben, ſind

— ein Theil der Kraft

die ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft.

Ein Jahrhundert friedlicher Entwicklung hätte die Jmpotenz, die
Unmenſchlichkeit, die Jmmoralität, die Widerſinnigkeit der modernen
Diplomatie und „Staatsmannſchaft‟ nicht ſo draſtiſch, ſo handgreiflich
ans Licht der Sonnen gebracht, als dieſer diplomatiſche Hexenſabbath
der letzten 18 Monate.

Und nun vorwärts auf der betretenen Bahn!

Während geſunder Menſchenverſtand, Recht, Humanität beſchimpft,
die Saaten zerſtampft, die Künſte des Friedens geopfert werden —
plätſchern am Bosporus, langſam anſchwellend, die Wogen der Revolution,
und an der Newa und Wolga bohrt leiſe, unaufhaltſam „der Wurm
des Sozialismus‟ — der Todtenwurm der heutigen Geſellſchaft. Für
ewige Zeiten gilt nicht das alte: Delirant reges plectunter Achivi.
Die Fürſten raſen und die Völker werden geſchlagen.



Teſtament Peters des Großen.

1. Die Ruſſen müſſen in einem fortwährenden Kriegszuſtande er-
halten werden, um die kriegeriſchen Neigungen des Heeres zu bewahren.
Keine Ruhe, außer um die Finanzen zu verbeſſern, das Heer zu rekru-
tiren und um den geeigneten Augenblick zum Angriff abzuwarten. Auf
dieſe Weiſe dient der Frieden für den Krieg und der Krieg für den
Frieden, im Jntereſſe der Vergrößerung und des erhöhten Wohlſtandes
von Rußland.

2. Wir müſſen auf jede mögliche Weiſe aus den beſtunterrichteten
Nationen Europas Generäle für die Zeit des Krieges und Gelehrte für
die Zeit des Friedens zu uns heranziehen, damit die ruſſiſche Nation
von den Vorzügen der anderen Länder Vortheil ziehe, ohne einen Theil
der ihrigen zu verlieren.

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[18/0022] Völkermords beladene Rußland, das dieſes Spiel am meiſten zu fürchten hat. Was wird die nächſte Zukunft uns bringen? Wie lange wird es dauern, bis der Brand unſerm eigenen Dach naht, es ergreift? Wird die „europäiſche Schachpartie‟ geſpielt werden zwiſchen Preußiſch-Deutſchland und Rußland einerſeits, und Oeſtreich, Frank- reich, England und der Türkei anderſeits? Werden unſere Brüder und Söhne, mit Baſchkiren und Kalmucken zuſammengekoppelt, „an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren‟ haben? Was da kommen möge, die barbariſchen Elemente, welche die Kriegsfurie entfeſſelt haben, ſind — ein Theil der Kraft die ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft. Ein Jahrhundert friedlicher Entwicklung hätte die Jmpotenz, die Unmenſchlichkeit, die Jmmoralität, die Widerſinnigkeit der modernen Diplomatie und „Staatsmannſchaft‟ nicht ſo draſtiſch, ſo handgreiflich ans Licht der Sonnen gebracht, als dieſer diplomatiſche Hexenſabbath der letzten 18 Monate. Und nun vorwärts auf der betretenen Bahn! Während geſunder Menſchenverſtand, Recht, Humanität beſchimpft, die Saaten zerſtampft, die Künſte des Friedens geopfert werden — plätſchern am Bosporus, langſam anſchwellend, die Wogen der Revolution, und an der Newa und Wolga bohrt leiſe, unaufhaltſam „der Wurm des Sozialismus‟ — der Todtenwurm der heutigen Geſellſchaft. Für ewige Zeiten gilt nicht das alte: Delirant reges plectunter Achivi. Die Fürſten raſen und die Völker werden geſchlagen. Teſtament Peters des Großen. 1. Die Ruſſen müſſen in einem fortwährenden Kriegszuſtande er- halten werden, um die kriegeriſchen Neigungen des Heeres zu bewahren. Keine Ruhe, außer um die Finanzen zu verbeſſern, das Heer zu rekru- tiren und um den geeigneten Augenblick zum Angriff abzuwarten. Auf dieſe Weiſe dient der Frieden für den Krieg und der Krieg für den Frieden, im Jntereſſe der Vergrößerung und des erhöhten Wohlſtandes von Rußland. 2. Wir müſſen auf jede mögliche Weiſe aus den beſtunterrichteten Nationen Europas Generäle für die Zeit des Krieges und Gelehrte für die Zeit des Friedens zu uns heranziehen, damit die ruſſiſche Nation von den Vorzügen der anderen Länder Vortheil ziehe, ohne einen Theil der ihrigen zu verlieren.

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/22>, abgerufen am 21.11.2024.