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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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verschafft haben wird. Jndeß "Stückchen Papier" lassen sich zerreißen,
und die Politik kennt keine Ehrlosigkeiten. Doch tausendmal bindender
als die bindendsten schriftlichen Garantien, sind die materiellen
Garantien, die Rußland in den Händen hat. Die reorganisirte fran-
zösische Armee, welche die 1870 von den Deutschen geschlagene Armee
Bonaparte's an Kriegstüchtigkeit ebenso übertrifft wie an Zahl, kann
jeden Moment gegen uns gehetzt werden. Sämmtliche Staatsmänner
Frankreichs: der gewesene Präsident Thiers, der gegenwärtige Präsident
Mac Mahon, der zukünftige Präsident Gambetta sind glühende Anhänger
der russischen Allianz zur Befriedigung der Revanchegelüste. Gegen
die russische Allianz sind in Frankreich überhaupt blos die extremsten
Radikalen und die Sozialisten: beide jetzt ohnmächtig.

Und wo hätte Preußisch-Deutschland einen Bundesgenossen
gegen die russisch-französische Allianz? Es bleiben blos zwei Groß-
mächte! England, das in einem Landkrieg relativ wenig Unterstützung
zu leisten vermag, und Oesterreich, das allerdings die erforderlichen
Machtmittel besitzt, aber durch die Gründer des "preußisch-deutschen
Reichs" aus Deutschland hinausgeworfen worden ist. Kann Fürst
Bismarck Hilfe von der Macht erwarten, der er 1866 so schwere Wunden
und Demüthigungen beigebracht und den "Stoß in's Herz" beizubringen
versucht hat?

Man sagt: Lügen haben kurze Beine.

Mit größerem Recht kann man sagen: Erfolge der Gewalts-
politik haben kurze Beine.

Die "glänzenden" Erfolge von 1866 und 1870--71 sind schon
der Nemesis verfallen. Und unsere festduseligen Philister, welche den
heiligen Sedan feiern, werden bald mit Entsetzen gewahr werden, daß
die deutschen Armeen in Frankreich trotz alles Patriotismus nicht für
Deutschland ihr Blut verspritzt haben, sondern für Rußland.

Und nun zum Schluß:

"Die Schande Europas" ist zuerst von den Sozialisten erkannt
worden. Die Sozialisten haben einen richtigeren staatsmännischen Blick
gezeigt, als die "genialen" und nicht "genialen" Staatsmänner von
Fach. Der Gang der Ereignisse hat den Sozialisten in allen Punkten
Recht gegeben. Er wird uns auch fernerhin Recht geben, denn wir
rechnen nicht, gleich unsern Gegnern, mit eingebildeten Faktoren,
nicht mit Wünschen, Neigungen, Abneigungen einzelner Personen, --
wir rechnen mit wirklichen, meßbaren Faktoren, mit den thatsäch-
lichen Verhältnissen und Jnteressen.

Das Uebel erkannt zu haben, genügt aber nicht. Die Erkenntniß
muß zur Ausrottung des Uebels verwerthet werden.

An den Sozialisten Europas und zunächst Deutschlands ist es:

verſchafft haben wird. Jndeß „Stückchen Papier‟ laſſen ſich zerreißen,
und die Politik kennt keine Ehrloſigkeiten. Doch tauſendmal bindender
als die bindendſten ſchriftlichen Garantien, ſind die materiellen
Garantien, die Rußland in den Händen hat. Die reorganiſirte fran-
zöſiſche Armee, welche die 1870 von den Deutſchen geſchlagene Armee
Bonaparte’s an Kriegstüchtigkeit ebenſo übertrifft wie an Zahl, kann
jeden Moment gegen uns gehetzt werden. Sämmtliche Staatsmänner
Frankreichs: der geweſene Präſident Thiers, der gegenwärtige Präſident
Mac Mahon, der zukünftige Präſident Gambetta ſind glühende Anhänger
der ruſſiſchen Allianz zur Befriedigung der Revanchegelüſte. Gegen
die ruſſiſche Allianz ſind in Frankreich überhaupt blos die extremſten
Radikalen und die Sozialiſten: beide jetzt ohnmächtig.

Und wo hätte Preußiſch-Deutſchland einen Bundesgenoſſen
gegen die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz? Es bleiben blos zwei Groß-
mächte! England, das in einem Landkrieg relativ wenig Unterſtützung
zu leiſten vermag, und Oeſterreich, das allerdings die erforderlichen
Machtmittel beſitzt, aber durch die Gründer des „preußiſch-deutſchen
Reichs‟ aus Deutſchland hinausgeworfen worden iſt. Kann Fürſt
Bismarck Hilfe von der Macht erwarten, der er 1866 ſo ſchwere Wunden
und Demüthigungen beigebracht und den „Stoß in’s Herz‟ beizubringen
verſucht hat?

Man ſagt: Lügen haben kurze Beine.

Mit größerem Recht kann man ſagen: Erfolge der Gewalts-
politik haben kurze Beine.

Die „glänzenden‟ Erfolge von 1866 und 1870—71 ſind ſchon
der Nemeſis verfallen. Und unſere feſtduſeligen Philiſter, welche den
heiligen Sedan feiern, werden bald mit Entſetzen gewahr werden, daß
die deutſchen Armeen in Frankreich trotz alles Patriotismus nicht für
Deutſchland ihr Blut verſpritzt haben, ſondern für Rußland.

Und nun zum Schluß:

„Die Schande Europas‟ iſt zuerſt von den Sozialiſten erkannt
worden. Die Sozialiſten haben einen richtigeren ſtaatsmänniſchen Blick
gezeigt, als die „genialen‟ und nicht „genialen‟ Staatsmänner von
Fach. Der Gang der Ereigniſſe hat den Sozialiſten in allen Punkten
Recht gegeben. Er wird uns auch fernerhin Recht geben, denn wir
rechnen nicht, gleich unſern Gegnern, mit eingebildeten Faktoren,
nicht mit Wünſchen, Neigungen, Abneigungen einzelner Perſonen, —
wir rechnen mit wirklichen, meßbaren Faktoren, mit den thatſäch-
lichen Verhältniſſen und Jntereſſen.

Das Uebel erkannt zu haben, genügt aber nicht. Die Erkenntniß
muß zur Ausrottung des Uebels verwerthet werden.

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[12/0016] verſchafft haben wird. Jndeß „Stückchen Papier‟ laſſen ſich zerreißen, und die Politik kennt keine Ehrloſigkeiten. Doch tauſendmal bindender als die bindendſten ſchriftlichen Garantien, ſind die materiellen Garantien, die Rußland in den Händen hat. Die reorganiſirte fran- zöſiſche Armee, welche die 1870 von den Deutſchen geſchlagene Armee Bonaparte’s an Kriegstüchtigkeit ebenſo übertrifft wie an Zahl, kann jeden Moment gegen uns gehetzt werden. Sämmtliche Staatsmänner Frankreichs: der geweſene Präſident Thiers, der gegenwärtige Präſident Mac Mahon, der zukünftige Präſident Gambetta ſind glühende Anhänger der ruſſiſchen Allianz zur Befriedigung der Revanchegelüſte. Gegen die ruſſiſche Allianz ſind in Frankreich überhaupt blos die extremſten Radikalen und die Sozialiſten: beide jetzt ohnmächtig. Und wo hätte Preußiſch-Deutſchland einen Bundesgenoſſen gegen die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz? Es bleiben blos zwei Groß- mächte! England, das in einem Landkrieg relativ wenig Unterſtützung zu leiſten vermag, und Oeſterreich, das allerdings die erforderlichen Machtmittel beſitzt, aber durch die Gründer des „preußiſch-deutſchen Reichs‟ aus Deutſchland hinausgeworfen worden iſt. Kann Fürſt Bismarck Hilfe von der Macht erwarten, der er 1866 ſo ſchwere Wunden und Demüthigungen beigebracht und den „Stoß in’s Herz‟ beizubringen verſucht hat? Man ſagt: Lügen haben kurze Beine. Mit größerem Recht kann man ſagen: Erfolge der Gewalts- politik haben kurze Beine. Die „glänzenden‟ Erfolge von 1866 und 1870—71 ſind ſchon der Nemeſis verfallen. Und unſere feſtduſeligen Philiſter, welche den heiligen Sedan feiern, werden bald mit Entſetzen gewahr werden, daß die deutſchen Armeen in Frankreich trotz alles Patriotismus nicht für Deutſchland ihr Blut verſpritzt haben, ſondern für Rußland. Und nun zum Schluß: „Die Schande Europas‟ iſt zuerſt von den Sozialiſten erkannt worden. Die Sozialiſten haben einen richtigeren ſtaatsmänniſchen Blick gezeigt, als die „genialen‟ und nicht „genialen‟ Staatsmänner von Fach. Der Gang der Ereigniſſe hat den Sozialiſten in allen Punkten Recht gegeben. Er wird uns auch fernerhin Recht geben, denn wir rechnen nicht, gleich unſern Gegnern, mit eingebildeten Faktoren, nicht mit Wünſchen, Neigungen, Abneigungen einzelner Perſonen, — wir rechnen mit wirklichen, meßbaren Faktoren, mit den thatſäch- lichen Verhältniſſen und Jntereſſen. Das Uebel erkannt zu haben, genügt aber nicht. Die Erkenntniß muß zur Ausrottung des Uebels verwerthet werden. An den Sozialiſten Europas und zunächſt Deutſchlands iſt es:

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/16>, abgerufen am 24.11.2024.