Die Erforschung der Zwecke und Functionen der einzel- nen Organe und ihres gegenseitigen Verbandes im Thier- körper, war in früherer Zeit der Hauptgegenstand der phy- siologischen Untersuchungen; er ist in der neuern Zeit in den Hintergrund getreten. Die größte Masse aller neueren Ent- deckungen hat die vergleichende Anatomie weit mehr als die Physiologie bereichert.
Für die Erkennung der ungleichen Formen und Zustände im gesunden und kranken Organismus geben diese Arbeiten ohne Zweifel die werthvollsten Resultate, allein für eine tie- fere Einsicht in das Wesen der vitalen Acte bieten sie keine Aufschlüsse dar.
Durch die genaueste, anatomische Kenntniß der Gebilde kann man zuletzt nicht erfahren, zu welchem Zwecke sie die- nen, und mit der mikroskopischen Untersuchung der feinsten Verzweigungen der Gefäßnetze wird man nicht mehr von ih- ren Verrichtungen wissen, als man über den Gesichtssinn durch das Zählen der Flächen auf dem Auge einer Stuben- fliege erfahren hat. Die schönste und erhabenste Aufgabe des menschlichen Geistes, die Erforschung der Gesetze des Lebens, kann nicht gelös't, sie kann nicht gedacht werden, ohne eine genaue Kenntniß der chemischen Kräfte, der Kräfte nämlich, die nicht in Entfernungen wirken, die in einer ähnlichen Weise zur Aeußerung gelangen, wie die letzten Ursachen, von welchen die Lebenserscheinungen bedingt werden, die sich überall thätig zeigen, wo sich differente Materien berühren.
Die Pathologie versucht noch heutzutage, wiewohl ganz
Vorwort.
Die Erforſchung der Zwecke und Functionen der einzel- nen Organe und ihres gegenſeitigen Verbandes im Thier- körper, war in früherer Zeit der Hauptgegenſtand der phy- ſiologiſchen Unterſuchungen; er iſt in der neuern Zeit in den Hintergrund getreten. Die größte Maſſe aller neueren Ent- deckungen hat die vergleichende Anatomie weit mehr als die Phyſiologie bereichert.
Für die Erkennung der ungleichen Formen und Zuſtände im geſunden und kranken Organismus geben dieſe Arbeiten ohne Zweifel die werthvollſten Reſultate, allein für eine tie- fere Einſicht in das Weſen der vitalen Acte bieten ſie keine Aufſchlüſſe dar.
Durch die genaueſte, anatomiſche Kenntniß der Gebilde kann man zuletzt nicht erfahren, zu welchem Zwecke ſie die- nen, und mit der mikroſkopiſchen Unterſuchung der feinſten Verzweigungen der Gefäßnetze wird man nicht mehr von ih- ren Verrichtungen wiſſen, als man über den Geſichtsſinn durch das Zählen der Flächen auf dem Auge einer Stuben- fliege erfahren hat. Die ſchönſte und erhabenſte Aufgabe des menſchlichen Geiſtes, die Erforſchung der Geſetze des Lebens, kann nicht gelöſ’t, ſie kann nicht gedacht werden, ohne eine genaue Kenntniß der chemiſchen Kräfte, der Kräfte nämlich, die nicht in Entfernungen wirken, die in einer ähnlichen Weiſe zur Aeußerung gelangen, wie die letzten Urſachen, von welchen die Lebenserſcheinungen bedingt werden, die ſich überall thätig zeigen, wo ſich differente Materien berühren.
Die Pathologie verſucht noch heutzutage, wiewohl ganz
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[X/0016]
Vorwort.
Die Erforſchung der Zwecke und Functionen der einzel-
nen Organe und ihres gegenſeitigen Verbandes im Thier-
körper, war in früherer Zeit der Hauptgegenſtand der phy-
ſiologiſchen Unterſuchungen; er iſt in der neuern Zeit in den
Hintergrund getreten. Die größte Maſſe aller neueren Ent-
deckungen hat die vergleichende Anatomie weit mehr als die
Phyſiologie bereichert.
Für die Erkennung der ungleichen Formen und Zuſtände
im geſunden und kranken Organismus geben dieſe Arbeiten
ohne Zweifel die werthvollſten Reſultate, allein für eine tie-
fere Einſicht in das Weſen der vitalen Acte bieten ſie keine
Aufſchlüſſe dar.
Durch die genaueſte, anatomiſche Kenntniß der Gebilde
kann man zuletzt nicht erfahren, zu welchem Zwecke ſie die-
nen, und mit der mikroſkopiſchen Unterſuchung der feinſten
Verzweigungen der Gefäßnetze wird man nicht mehr von ih-
ren Verrichtungen wiſſen, als man über den Geſichtsſinn
durch das Zählen der Flächen auf dem Auge einer Stuben-
fliege erfahren hat. Die ſchönſte und erhabenſte Aufgabe des
menſchlichen Geiſtes, die Erforſchung der Geſetze des Lebens,
kann nicht gelöſ’t, ſie kann nicht gedacht werden, ohne eine
genaue Kenntniß der chemiſchen Kräfte, der Kräfte nämlich,
die nicht in Entfernungen wirken, die in einer ähnlichen Weiſe
zur Aeußerung gelangen, wie die letzten Urſachen, von welchen
die Lebenserſcheinungen bedingt werden, die ſich überall thätig
zeigen, wo ſich differente Materien berühren.
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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_physiologie_1842/16>, abgerufen am 24.11.2024.
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