Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Tante Julie war die liebenswürdigste Frau in unserer Familie. Mitten im Winter, im Nebel und Regen war's, als würde es hell und freundlich, wo sie hinkam. Wenn sie in das Zimmer eintrat, wenn ihr alter Diener ihr den Atlasmantel und den weißen Stepphut abnahm, und sie nun da stand in dem stattlichen seidenen Kleide, mit der weißen Haube und den Rosaschleifen, und sich umsah, da fiel's fast wie ein milder Sonnenstrahl in jedes Herz. Nun, lieben Kinder, seid ihr munter? pflegte sie zu fragen, während sie in den Spiegel blickte, die Rosabänder an ihrer Haube zurecht zu ziehen, die sie noch immer trefflich kleideten. Sie nannte das Band Hortensienfarbe, denn sie liebte die Hortensien ganz besonders; doch gab sie zu, es spiele in das Röthliche hinüber, wenn wir sie freundlich mit den Rosabändern neckten. Das ganze Wesen der Tante hatte trotz ihrer siebenundfünfzig Jahre noch immer einen Anflug jener unvergänglichen Jugend, die vom Gemüthe kommt, und wir glaubten es ihren Zeitgenossen gern, Tante Julie war die liebenswürdigste Frau in unserer Familie. Mitten im Winter, im Nebel und Regen war's, als würde es hell und freundlich, wo sie hinkam. Wenn sie in das Zimmer eintrat, wenn ihr alter Diener ihr den Atlasmantel und den weißen Stepphut abnahm, und sie nun da stand in dem stattlichen seidenen Kleide, mit der weißen Haube und den Rosaschleifen, und sich umsah, da fiel's fast wie ein milder Sonnenstrahl in jedes Herz. Nun, lieben Kinder, seid ihr munter? pflegte sie zu fragen, während sie in den Spiegel blickte, die Rosabänder an ihrer Haube zurecht zu ziehen, die sie noch immer trefflich kleideten. Sie nannte das Band Hortensienfarbe, denn sie liebte die Hortensien ganz besonders; doch gab sie zu, es spiele in das Röthliche hinüber, wenn wir sie freundlich mit den Rosabändern neckten. Das ganze Wesen der Tante hatte trotz ihrer siebenundfünfzig Jahre noch immer einen Anflug jener unvergänglichen Jugend, die vom Gemüthe kommt, und wir glaubten es ihren Zeitgenossen gern, <TEI> <text> <pb facs="#f0007"/> <body> <div n="1"> <p>Tante Julie war die liebenswürdigste Frau in unserer Familie. Mitten im Winter, im Nebel und Regen war's, als würde es hell und freundlich, wo sie hinkam. Wenn sie in das Zimmer eintrat, wenn ihr alter Diener ihr den Atlasmantel und den weißen Stepphut abnahm, und sie nun da stand in dem stattlichen seidenen Kleide, mit der weißen Haube und den Rosaschleifen, und sich umsah, da fiel's fast wie ein milder Sonnenstrahl in jedes Herz.</p><lb/> <p>Nun, lieben Kinder, seid ihr munter? pflegte sie zu fragen, während sie in den Spiegel blickte, die Rosabänder an ihrer Haube zurecht zu ziehen, die sie noch immer trefflich kleideten. Sie nannte das Band Hortensienfarbe, denn sie liebte die Hortensien ganz besonders; doch gab sie zu, es spiele in das Röthliche hinüber, wenn wir sie freundlich mit den Rosabändern neckten.</p><lb/> <p>Das ganze Wesen der Tante hatte trotz ihrer siebenundfünfzig Jahre noch immer einen Anflug jener unvergänglichen Jugend, die vom Gemüthe kommt, und wir glaubten es ihren Zeitgenossen gern,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0007]
Tante Julie war die liebenswürdigste Frau in unserer Familie. Mitten im Winter, im Nebel und Regen war's, als würde es hell und freundlich, wo sie hinkam. Wenn sie in das Zimmer eintrat, wenn ihr alter Diener ihr den Atlasmantel und den weißen Stepphut abnahm, und sie nun da stand in dem stattlichen seidenen Kleide, mit der weißen Haube und den Rosaschleifen, und sich umsah, da fiel's fast wie ein milder Sonnenstrahl in jedes Herz.
Nun, lieben Kinder, seid ihr munter? pflegte sie zu fragen, während sie in den Spiegel blickte, die Rosabänder an ihrer Haube zurecht zu ziehen, die sie noch immer trefflich kleideten. Sie nannte das Band Hortensienfarbe, denn sie liebte die Hortensien ganz besonders; doch gab sie zu, es spiele in das Röthliche hinüber, wenn wir sie freundlich mit den Rosabändern neckten.
Das ganze Wesen der Tante hatte trotz ihrer siebenundfünfzig Jahre noch immer einen Anflug jener unvergänglichen Jugend, die vom Gemüthe kommt, und wir glaubten es ihren Zeitgenossen gern,
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/7>, abgerufen am 05.07.2024. |