Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.mein Bruder in das Geschäft eintrat, der bis dahin zu seiner Ausbildung in Lyon gewesen war. Indeß zur Ruhe konnte sie auch dann nicht kommen, denn Ruhe fand in jenen Tagen Niemand. Der nächste Sommer brachte den Krieg gegen Rußland, den Durchmarsch der großen Armee, und der Winter die furchtbare französische Retirade mit ihrem Gefolge von Noth und tödtlichem Siechthum. Die ganze Stadt lag voll Verwundeter und Kranker. Jedes Haus, jede Familie hatte Blessirte zu pflegen, während man für das Leben der seinigen zitterte. Auch unser Haus blieb nicht verschont. Mein zweiter Bruder starb am Typhus wenige Tage nach Antoniens Hochzeit, und obschon wir durch die Einquartierung uns auf zwei Stuben eingeschränkt befanden, kamen dieselben uns doch leer und öde vor, nachdem die Schwester fort und der Bruder uns entrissen worden war. So oft ich jetzt die Menschen über den Mangel an Raum in ihren Wohnungen sprechen höre, wenn sie behaupten, das oder jenes gehe in ihrem Locale, bei ihren Mitteln nicht, so denke ich an jene Zeit zurück, in der Alles ging und Alles möglich war, weil es eben gehen mußte und weil es Größeres zu denken, Größeres zu verlieren und zu gewinnen gab, als äußere Bequemlichkeiten des Lebens, die man in der langen, ruhigen Friedenszeit zu überschätzen sich gewöhnt hat. mein Bruder in das Geschäft eintrat, der bis dahin zu seiner Ausbildung in Lyon gewesen war. Indeß zur Ruhe konnte sie auch dann nicht kommen, denn Ruhe fand in jenen Tagen Niemand. Der nächste Sommer brachte den Krieg gegen Rußland, den Durchmarsch der großen Armee, und der Winter die furchtbare französische Retirade mit ihrem Gefolge von Noth und tödtlichem Siechthum. Die ganze Stadt lag voll Verwundeter und Kranker. Jedes Haus, jede Familie hatte Blessirte zu pflegen, während man für das Leben der seinigen zitterte. Auch unser Haus blieb nicht verschont. Mein zweiter Bruder starb am Typhus wenige Tage nach Antoniens Hochzeit, und obschon wir durch die Einquartierung uns auf zwei Stuben eingeschränkt befanden, kamen dieselben uns doch leer und öde vor, nachdem die Schwester fort und der Bruder uns entrissen worden war. So oft ich jetzt die Menschen über den Mangel an Raum in ihren Wohnungen sprechen höre, wenn sie behaupten, das oder jenes gehe in ihrem Locale, bei ihren Mitteln nicht, so denke ich an jene Zeit zurück, in der Alles ging und Alles möglich war, weil es eben gehen mußte und weil es Größeres zu denken, Größeres zu verlieren und zu gewinnen gab, als äußere Bequemlichkeiten des Lebens, die man in der langen, ruhigen Friedenszeit zu überschätzen sich gewöhnt hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0058"/> mein Bruder in das Geschäft eintrat, der bis dahin zu seiner Ausbildung in Lyon gewesen war. Indeß zur Ruhe konnte sie auch dann nicht kommen, denn Ruhe fand in jenen Tagen Niemand.</p><lb/> <p>Der nächste Sommer brachte den Krieg gegen Rußland, den Durchmarsch der großen Armee, und der Winter die furchtbare französische Retirade mit ihrem Gefolge von Noth und tödtlichem Siechthum. Die ganze Stadt lag voll Verwundeter und Kranker. Jedes Haus, jede Familie hatte Blessirte zu pflegen, während man für das Leben der seinigen zitterte. Auch unser Haus blieb nicht verschont. Mein zweiter Bruder starb am Typhus wenige Tage nach Antoniens Hochzeit, und obschon wir durch die Einquartierung uns auf zwei Stuben eingeschränkt befanden, kamen dieselben uns doch leer und öde vor, nachdem die Schwester fort und der Bruder uns entrissen worden war.</p><lb/> <p>So oft ich jetzt die Menschen über den Mangel an Raum in ihren Wohnungen sprechen höre, wenn sie behaupten, das oder jenes gehe in ihrem Locale, bei ihren Mitteln nicht, so denke ich an jene Zeit zurück, in der Alles ging und Alles möglich war, weil es eben gehen mußte und weil es Größeres zu denken, Größeres zu verlieren und zu gewinnen gab, als äußere Bequemlichkeiten des Lebens, die man in der langen, ruhigen Friedenszeit zu überschätzen sich gewöhnt hat.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
mein Bruder in das Geschäft eintrat, der bis dahin zu seiner Ausbildung in Lyon gewesen war. Indeß zur Ruhe konnte sie auch dann nicht kommen, denn Ruhe fand in jenen Tagen Niemand.
Der nächste Sommer brachte den Krieg gegen Rußland, den Durchmarsch der großen Armee, und der Winter die furchtbare französische Retirade mit ihrem Gefolge von Noth und tödtlichem Siechthum. Die ganze Stadt lag voll Verwundeter und Kranker. Jedes Haus, jede Familie hatte Blessirte zu pflegen, während man für das Leben der seinigen zitterte. Auch unser Haus blieb nicht verschont. Mein zweiter Bruder starb am Typhus wenige Tage nach Antoniens Hochzeit, und obschon wir durch die Einquartierung uns auf zwei Stuben eingeschränkt befanden, kamen dieselben uns doch leer und öde vor, nachdem die Schwester fort und der Bruder uns entrissen worden war.
So oft ich jetzt die Menschen über den Mangel an Raum in ihren Wohnungen sprechen höre, wenn sie behaupten, das oder jenes gehe in ihrem Locale, bei ihren Mitteln nicht, so denke ich an jene Zeit zurück, in der Alles ging und Alles möglich war, weil es eben gehen mußte und weil es Größeres zu denken, Größeres zu verlieren und zu gewinnen gab, als äußere Bequemlichkeiten des Lebens, die man in der langen, ruhigen Friedenszeit zu überschätzen sich gewöhnt hat.
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/58>, abgerufen am 05.07.2024. |