Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.mit weicher Schonung; das machte aber keinen Eindruck auf sie, und wir Alle hatten von ihrer üblen Laune so viel zu dulden, daß ich glaube, Jeder von uns wünschte die Verheirathung der Schwester, um sie aus dem Hause fortzuhaben. Eines Abends, als die Mutter mit Caroline und Antoinette auch zu einem Balle gehen sollte, hatte sie sich schon früher angekleidet und war mit mir allein im Zimmer. Ich sehe sie noch vor mir in ihrem schwarzen Atlaskleide mit dem hohen Stuartkragen, der ihren schönen Hals und ihre Büste theilweise frei ließ, und mit dem Netze von dunkelrother Seide, das sie sich leicht gepufft durch ihre blonden Flechten und Locken zog. Sie war so schön, daß ich sie küssen mußte, und als in diesem Augenblicke der Onkel eintrat, rief ich ihm entgegen: Sieh einmal, Onkel, wie schön die Mama heute aussieht, viel schöner als Caroline und auch als Antonie! Findest du das nicht? Sprich nicht so kindisch, Julie! sprach die Mutter tadelnd, band einen rothen Shawl um, der auf dem Sopha lag, und der Onkel sagte gar nichts. Ich sah aber, daß er die Mutter unverwandt betrachtete, und hatte das sichere Empfinden, er theile meine Freude über ihre Schönheit. Nach einer Weile ging ich hinaus; als ich dann wiederkehrte, fand ich die Mutter noch auf dem alten Platze, aber der Onkel war fortgegangen, und sie hatte offenbar geweint. Ein dunkles Empfinden warnte mich, sie um die mit weicher Schonung; das machte aber keinen Eindruck auf sie, und wir Alle hatten von ihrer üblen Laune so viel zu dulden, daß ich glaube, Jeder von uns wünschte die Verheirathung der Schwester, um sie aus dem Hause fortzuhaben. Eines Abends, als die Mutter mit Caroline und Antoinette auch zu einem Balle gehen sollte, hatte sie sich schon früher angekleidet und war mit mir allein im Zimmer. Ich sehe sie noch vor mir in ihrem schwarzen Atlaskleide mit dem hohen Stuartkragen, der ihren schönen Hals und ihre Büste theilweise frei ließ, und mit dem Netze von dunkelrother Seide, das sie sich leicht gepufft durch ihre blonden Flechten und Locken zog. Sie war so schön, daß ich sie küssen mußte, und als in diesem Augenblicke der Onkel eintrat, rief ich ihm entgegen: Sieh einmal, Onkel, wie schön die Mama heute aussieht, viel schöner als Caroline und auch als Antonie! Findest du das nicht? Sprich nicht so kindisch, Julie! sprach die Mutter tadelnd, band einen rothen Shawl um, der auf dem Sopha lag, und der Onkel sagte gar nichts. Ich sah aber, daß er die Mutter unverwandt betrachtete, und hatte das sichere Empfinden, er theile meine Freude über ihre Schönheit. Nach einer Weile ging ich hinaus; als ich dann wiederkehrte, fand ich die Mutter noch auf dem alten Platze, aber der Onkel war fortgegangen, und sie hatte offenbar geweint. Ein dunkles Empfinden warnte mich, sie um die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0056"/> mit weicher Schonung; das machte aber keinen Eindruck auf sie, und wir Alle hatten von ihrer üblen Laune so viel zu dulden, daß ich glaube, Jeder von uns wünschte die Verheirathung der Schwester, um sie aus dem Hause fortzuhaben.</p><lb/> <p>Eines Abends, als die Mutter mit Caroline und Antoinette auch zu einem Balle gehen sollte, hatte sie sich schon früher angekleidet und war mit mir allein im Zimmer. Ich sehe sie noch vor mir in ihrem schwarzen Atlaskleide mit dem hohen Stuartkragen, der ihren schönen Hals und ihre Büste theilweise frei ließ, und mit dem Netze von dunkelrother Seide, das sie sich leicht gepufft durch ihre blonden Flechten und Locken zog. Sie war so schön, daß ich sie küssen mußte, und als in diesem Augenblicke der Onkel eintrat, rief ich ihm entgegen: Sieh einmal, Onkel, wie schön die Mama heute aussieht, viel schöner als Caroline und auch als Antonie! Findest du das nicht?</p><lb/> <p>Sprich nicht so kindisch, Julie! sprach die Mutter tadelnd, band einen rothen Shawl um, der auf dem Sopha lag, und der Onkel sagte gar nichts. Ich sah aber, daß er die Mutter unverwandt betrachtete, und hatte das sichere Empfinden, er theile meine Freude über ihre Schönheit. Nach einer Weile ging ich hinaus; als ich dann wiederkehrte, fand ich die Mutter noch auf dem alten Platze, aber der Onkel war fortgegangen, und sie hatte offenbar geweint.</p><lb/> <p>Ein dunkles Empfinden warnte mich, sie um die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0056]
mit weicher Schonung; das machte aber keinen Eindruck auf sie, und wir Alle hatten von ihrer üblen Laune so viel zu dulden, daß ich glaube, Jeder von uns wünschte die Verheirathung der Schwester, um sie aus dem Hause fortzuhaben.
Eines Abends, als die Mutter mit Caroline und Antoinette auch zu einem Balle gehen sollte, hatte sie sich schon früher angekleidet und war mit mir allein im Zimmer. Ich sehe sie noch vor mir in ihrem schwarzen Atlaskleide mit dem hohen Stuartkragen, der ihren schönen Hals und ihre Büste theilweise frei ließ, und mit dem Netze von dunkelrother Seide, das sie sich leicht gepufft durch ihre blonden Flechten und Locken zog. Sie war so schön, daß ich sie küssen mußte, und als in diesem Augenblicke der Onkel eintrat, rief ich ihm entgegen: Sieh einmal, Onkel, wie schön die Mama heute aussieht, viel schöner als Caroline und auch als Antonie! Findest du das nicht?
Sprich nicht so kindisch, Julie! sprach die Mutter tadelnd, band einen rothen Shawl um, der auf dem Sopha lag, und der Onkel sagte gar nichts. Ich sah aber, daß er die Mutter unverwandt betrachtete, und hatte das sichere Empfinden, er theile meine Freude über ihre Schönheit. Nach einer Weile ging ich hinaus; als ich dann wiederkehrte, fand ich die Mutter noch auf dem alten Platze, aber der Onkel war fortgegangen, und sie hatte offenbar geweint.
Ein dunkles Empfinden warnte mich, sie um die
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