Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Jahre, und meine Geburt stand ihr nahe bevor, als sie auf einem großen Feste ganz unerwartet den Geliebten ihrer Jugend vor sich sah. Er war unvermählt geblieben, obschon er die Verheirathung meiner Mutter einst durch sie selbst erfahren hatte. Aber wissen, daß eine geliebte Frau verheirathet ist, oder sie als Gattin eines Andern, als Mutter seiner Kinder und dabei heiter und zufrieden wiedersehen, das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Herr von Schlichting konnte sich nicht gleich darin zurecht finden, daß die Mutter ihm mit so ruhiger Freundlichkeit die Hand bot. Es that ihm wider seinen Willen weh, als sie den Vater zu sich rief, um ihm den einst Geliebten vorzustellen; aber die Zuversicht, mit der die Eltern ihn behandelten zwang ihn zu einer bestimmten Fassung und zu einer noch bestimmteren Haltung ihnen gegenüber. So einfach, als könne es nicht anders sein, forderte der Vater ihn auf, sein Haus zu besuchen. Er war selbst ein Ehrenmann, und die alte strenge Familienzucht herrschte in seinem Hause, darum glaubte er auch an die Ehre Anderer, obschon damals die Sitten locker waren in der vornehmen Gesellschaft. Der Vater dachte, wenn Schlichting sieht, wie wohl es Josephinen in meinem Hause geht, müßte er ein Schurke sein, wenn er ihr diesen Frieden rauben wollte. Und er hatte damit richtig speculirt. Es war zu meiner Taufe, als Herr von Schlich- Jahre, und meine Geburt stand ihr nahe bevor, als sie auf einem großen Feste ganz unerwartet den Geliebten ihrer Jugend vor sich sah. Er war unvermählt geblieben, obschon er die Verheirathung meiner Mutter einst durch sie selbst erfahren hatte. Aber wissen, daß eine geliebte Frau verheirathet ist, oder sie als Gattin eines Andern, als Mutter seiner Kinder und dabei heiter und zufrieden wiedersehen, das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Herr von Schlichting konnte sich nicht gleich darin zurecht finden, daß die Mutter ihm mit so ruhiger Freundlichkeit die Hand bot. Es that ihm wider seinen Willen weh, als sie den Vater zu sich rief, um ihm den einst Geliebten vorzustellen; aber die Zuversicht, mit der die Eltern ihn behandelten zwang ihn zu einer bestimmten Fassung und zu einer noch bestimmteren Haltung ihnen gegenüber. So einfach, als könne es nicht anders sein, forderte der Vater ihn auf, sein Haus zu besuchen. Er war selbst ein Ehrenmann, und die alte strenge Familienzucht herrschte in seinem Hause, darum glaubte er auch an die Ehre Anderer, obschon damals die Sitten locker waren in der vornehmen Gesellschaft. Der Vater dachte, wenn Schlichting sieht, wie wohl es Josephinen in meinem Hause geht, müßte er ein Schurke sein, wenn er ihr diesen Frieden rauben wollte. Und er hatte damit richtig speculirt. Es war zu meiner Taufe, als Herr von Schlich- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0026"/> Jahre, und meine Geburt stand ihr nahe bevor, als sie auf einem großen Feste ganz unerwartet den Geliebten ihrer Jugend vor sich sah. Er war unvermählt geblieben, obschon er die Verheirathung meiner Mutter einst durch sie selbst erfahren hatte. Aber wissen, daß eine geliebte Frau verheirathet ist, oder sie als Gattin eines Andern, als Mutter seiner Kinder und dabei heiter und zufrieden wiedersehen, das sind zwei sehr verschiedene Dinge.</p><lb/> <p>Herr von Schlichting konnte sich nicht gleich darin zurecht finden, daß die Mutter ihm mit so ruhiger Freundlichkeit die Hand bot. Es that ihm wider seinen Willen weh, als sie den Vater zu sich rief, um ihm den einst Geliebten vorzustellen; aber die Zuversicht, mit der die Eltern ihn behandelten zwang ihn zu einer bestimmten Fassung und zu einer noch bestimmteren Haltung ihnen gegenüber. So einfach, als könne es nicht anders sein, forderte der Vater ihn auf, sein Haus zu besuchen. Er war selbst ein Ehrenmann, und die alte strenge Familienzucht herrschte in seinem Hause, darum glaubte er auch an die Ehre Anderer, obschon damals die Sitten locker waren in der vornehmen Gesellschaft. Der Vater dachte, wenn Schlichting sieht, wie wohl es Josephinen in meinem Hause geht, müßte er ein Schurke sein, wenn er ihr diesen Frieden rauben wollte. Und er hatte damit richtig speculirt.</p><lb/> <p>Es war zu meiner Taufe, als Herr von Schlich-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
Jahre, und meine Geburt stand ihr nahe bevor, als sie auf einem großen Feste ganz unerwartet den Geliebten ihrer Jugend vor sich sah. Er war unvermählt geblieben, obschon er die Verheirathung meiner Mutter einst durch sie selbst erfahren hatte. Aber wissen, daß eine geliebte Frau verheirathet ist, oder sie als Gattin eines Andern, als Mutter seiner Kinder und dabei heiter und zufrieden wiedersehen, das sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Herr von Schlichting konnte sich nicht gleich darin zurecht finden, daß die Mutter ihm mit so ruhiger Freundlichkeit die Hand bot. Es that ihm wider seinen Willen weh, als sie den Vater zu sich rief, um ihm den einst Geliebten vorzustellen; aber die Zuversicht, mit der die Eltern ihn behandelten zwang ihn zu einer bestimmten Fassung und zu einer noch bestimmteren Haltung ihnen gegenüber. So einfach, als könne es nicht anders sein, forderte der Vater ihn auf, sein Haus zu besuchen. Er war selbst ein Ehrenmann, und die alte strenge Familienzucht herrschte in seinem Hause, darum glaubte er auch an die Ehre Anderer, obschon damals die Sitten locker waren in der vornehmen Gesellschaft. Der Vater dachte, wenn Schlichting sieht, wie wohl es Josephinen in meinem Hause geht, müßte er ein Schurke sein, wenn er ihr diesen Frieden rauben wollte. Und er hatte damit richtig speculirt.
Es war zu meiner Taufe, als Herr von Schlich-
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/26>, abgerufen am 05.07.2024. |