Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.unter uns, denn die Frauen waren noch liebenswürdig, und die Männer gingen noch gern mit ihnen um. Die Frauen lasen noch keine wissenschaftlichen Bücher, sondern nur Romane; sie brauchten also am Abend von den Männern im Salon nicht Aufschlüsse und Erklärungen zu fordern, sie wußten selbst Bescheid, konnten mitreden und oft sogar dem Manne deutlich machen, was ihr Herz besser begriffen hatte, als der männliche Verstand. Sie bewegten sich auf einem Boden, auf dem sie mit Sicherheit zu Hause waren, die Männer fanden Erholung bei ihnen und hatten nicht, wie jetzt, das undankbare Amt, die Präceptoren von einem halbverstehenden und dadurch stets confusen Frauenpublicum zu machen. Dabei gewährte dann die leichte und doch tiefe Unterhaltung über dichterische Literatur so klare Einblicke in manch schöne Frauenseele, daß neben dem geselligen Interesse wohl auch ein tieferes Gefühl erwachte, dessen man sich gar nicht schämte. Männer und Frauen wollten gefallen und darum gefielen sie einander und hatten Lust und Freude daran, dies gegenseitige Wohlempfinden immer aufs Neue zu genießen, zu erhalten und zu verstärken. Es waren nicht immer große oder gar schlimme Leidenschaften. Gott bewahre! Wer in eine solche sich verstrickte, den beklagte man, aber man kannte damals noch die alten, guten Attachements, die rührender und sanfter waren als die Freundschaft, ruhiger als die Leidenschaft und meist viel dauerhafter als die unter uns, denn die Frauen waren noch liebenswürdig, und die Männer gingen noch gern mit ihnen um. Die Frauen lasen noch keine wissenschaftlichen Bücher, sondern nur Romane; sie brauchten also am Abend von den Männern im Salon nicht Aufschlüsse und Erklärungen zu fordern, sie wußten selbst Bescheid, konnten mitreden und oft sogar dem Manne deutlich machen, was ihr Herz besser begriffen hatte, als der männliche Verstand. Sie bewegten sich auf einem Boden, auf dem sie mit Sicherheit zu Hause waren, die Männer fanden Erholung bei ihnen und hatten nicht, wie jetzt, das undankbare Amt, die Präceptoren von einem halbverstehenden und dadurch stets confusen Frauenpublicum zu machen. Dabei gewährte dann die leichte und doch tiefe Unterhaltung über dichterische Literatur so klare Einblicke in manch schöne Frauenseele, daß neben dem geselligen Interesse wohl auch ein tieferes Gefühl erwachte, dessen man sich gar nicht schämte. Männer und Frauen wollten gefallen und darum gefielen sie einander und hatten Lust und Freude daran, dies gegenseitige Wohlempfinden immer aufs Neue zu genießen, zu erhalten und zu verstärken. Es waren nicht immer große oder gar schlimme Leidenschaften. Gott bewahre! Wer in eine solche sich verstrickte, den beklagte man, aber man kannte damals noch die alten, guten Attachements, die rührender und sanfter waren als die Freundschaft, ruhiger als die Leidenschaft und meist viel dauerhafter als die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0023"/> unter uns, denn die Frauen waren noch liebenswürdig, und die Männer gingen noch gern mit ihnen um. Die Frauen lasen noch keine wissenschaftlichen Bücher, sondern nur Romane; sie brauchten also am Abend von den Männern im Salon nicht Aufschlüsse und Erklärungen zu fordern, sie wußten selbst Bescheid, konnten mitreden und oft sogar dem Manne deutlich machen, was ihr Herz besser begriffen hatte, als der männliche Verstand. Sie bewegten sich auf einem Boden, auf dem sie mit Sicherheit zu Hause waren, die Männer fanden Erholung bei ihnen und hatten nicht, wie jetzt, das undankbare Amt, die Präceptoren von einem halbverstehenden und dadurch stets confusen Frauenpublicum zu machen. Dabei gewährte dann die leichte und doch tiefe Unterhaltung über dichterische Literatur so klare Einblicke in manch schöne Frauenseele, daß neben dem geselligen Interesse wohl auch ein tieferes Gefühl erwachte, dessen man sich gar nicht schämte. Männer und Frauen wollten gefallen und darum gefielen sie einander und hatten Lust und Freude daran, dies gegenseitige Wohlempfinden immer aufs Neue zu genießen, zu erhalten und zu verstärken.</p><lb/> <p>Es waren nicht immer große oder gar schlimme Leidenschaften. Gott bewahre! Wer in eine solche sich verstrickte, den beklagte man, aber man kannte damals noch die alten, guten Attachements, die rührender und sanfter waren als die Freundschaft, ruhiger als die Leidenschaft und meist viel dauerhafter als die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0023]
unter uns, denn die Frauen waren noch liebenswürdig, und die Männer gingen noch gern mit ihnen um. Die Frauen lasen noch keine wissenschaftlichen Bücher, sondern nur Romane; sie brauchten also am Abend von den Männern im Salon nicht Aufschlüsse und Erklärungen zu fordern, sie wußten selbst Bescheid, konnten mitreden und oft sogar dem Manne deutlich machen, was ihr Herz besser begriffen hatte, als der männliche Verstand. Sie bewegten sich auf einem Boden, auf dem sie mit Sicherheit zu Hause waren, die Männer fanden Erholung bei ihnen und hatten nicht, wie jetzt, das undankbare Amt, die Präceptoren von einem halbverstehenden und dadurch stets confusen Frauenpublicum zu machen. Dabei gewährte dann die leichte und doch tiefe Unterhaltung über dichterische Literatur so klare Einblicke in manch schöne Frauenseele, daß neben dem geselligen Interesse wohl auch ein tieferes Gefühl erwachte, dessen man sich gar nicht schämte. Männer und Frauen wollten gefallen und darum gefielen sie einander und hatten Lust und Freude daran, dies gegenseitige Wohlempfinden immer aufs Neue zu genießen, zu erhalten und zu verstärken.
Es waren nicht immer große oder gar schlimme Leidenschaften. Gott bewahre! Wer in eine solche sich verstrickte, den beklagte man, aber man kannte damals noch die alten, guten Attachements, die rührender und sanfter waren als die Freundschaft, ruhiger als die Leidenschaft und meist viel dauerhafter als die
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/23>, abgerufen am 26.07.2024. |