Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.bekrittelt und getadelt wurde. Er ließ sich aber von ihrem Mißfallen nicht stören, und der Mutter war das weltliche Leben ganz genehm. Je mehr Kinder sie gehabt, je gesünder und stärker war sie geworden, und dieses Embonpoint machte sie nur noch schöner. Sie kleidete sich gut, hatte die angenehmsten Manieren, sprach mit großer Leichtigkeit, und da sie herzensgut und recht im Grunde eine freundliche Seele war, so gewann das Geringste, was sie für die Menschen that, einen besondern Anstrich und einen unschätzbaren Werth. Liebenswürdiger als meine Mutter habe ich nie eine Frau gesehen. Sie gefiel einem Jeden, und darum machte der Verkehr mit Andern ihr so große Freude. Weil damals die Seidenwirkereien in Preußen noch nicht zahlreich waren, ermunterte und beschützte sie der Hof, und sie hatten denn auch andererseits einen lebhaften Absatz nach Rußland und nach Polen. So kam der Vater mit vornehmen Beamten vielfach in Berührung, die ihm nützlich sein konnten, und denen er dafür gern in seinem Hause eine stattliche Aufnahme bereitete, während durch seine Handelsfreunde viele Russen und Polen seiner Gastfreundschaft zugewiesen wurden. Es war also ein steter Wechsel von Fremden in unserem Hause, und da solch ein Umgang sich weiter und weiter verzweigt, so hatte die Mutter bald einen Zusammenhang mit der eleganten und schönen Gesellschaft von Berlin. Und in jenen Tagen gab es noch eine Gesellschaft bekrittelt und getadelt wurde. Er ließ sich aber von ihrem Mißfallen nicht stören, und der Mutter war das weltliche Leben ganz genehm. Je mehr Kinder sie gehabt, je gesünder und stärker war sie geworden, und dieses Embonpoint machte sie nur noch schöner. Sie kleidete sich gut, hatte die angenehmsten Manieren, sprach mit großer Leichtigkeit, und da sie herzensgut und recht im Grunde eine freundliche Seele war, so gewann das Geringste, was sie für die Menschen that, einen besondern Anstrich und einen unschätzbaren Werth. Liebenswürdiger als meine Mutter habe ich nie eine Frau gesehen. Sie gefiel einem Jeden, und darum machte der Verkehr mit Andern ihr so große Freude. Weil damals die Seidenwirkereien in Preußen noch nicht zahlreich waren, ermunterte und beschützte sie der Hof, und sie hatten denn auch andererseits einen lebhaften Absatz nach Rußland und nach Polen. So kam der Vater mit vornehmen Beamten vielfach in Berührung, die ihm nützlich sein konnten, und denen er dafür gern in seinem Hause eine stattliche Aufnahme bereitete, während durch seine Handelsfreunde viele Russen und Polen seiner Gastfreundschaft zugewiesen wurden. Es war also ein steter Wechsel von Fremden in unserem Hause, und da solch ein Umgang sich weiter und weiter verzweigt, so hatte die Mutter bald einen Zusammenhang mit der eleganten und schönen Gesellschaft von Berlin. Und in jenen Tagen gab es noch eine Gesellschaft <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0022"/> bekrittelt und getadelt wurde. Er ließ sich aber von ihrem Mißfallen nicht stören, und der Mutter war das weltliche Leben ganz genehm. Je mehr Kinder sie gehabt, je gesünder und stärker war sie geworden, und dieses Embonpoint machte sie nur noch schöner. Sie kleidete sich gut, hatte die angenehmsten Manieren, sprach mit großer Leichtigkeit, und da sie herzensgut und recht im Grunde eine freundliche Seele war, so gewann das Geringste, was sie für die Menschen that, einen besondern Anstrich und einen unschätzbaren Werth. Liebenswürdiger als meine Mutter habe ich nie eine Frau gesehen. Sie gefiel einem Jeden, und darum machte der Verkehr mit Andern ihr so große Freude.</p><lb/> <p>Weil damals die Seidenwirkereien in Preußen noch nicht zahlreich waren, ermunterte und beschützte sie der Hof, und sie hatten denn auch andererseits einen lebhaften Absatz nach Rußland und nach Polen. So kam der Vater mit vornehmen Beamten vielfach in Berührung, die ihm nützlich sein konnten, und denen er dafür gern in seinem Hause eine stattliche Aufnahme bereitete, während durch seine Handelsfreunde viele Russen und Polen seiner Gastfreundschaft zugewiesen wurden. Es war also ein steter Wechsel von Fremden in unserem Hause, und da solch ein Umgang sich weiter und weiter verzweigt, so hatte die Mutter bald einen Zusammenhang mit der eleganten und schönen Gesellschaft von Berlin.</p><lb/> <p>Und in jenen Tagen gab es noch eine Gesellschaft<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
bekrittelt und getadelt wurde. Er ließ sich aber von ihrem Mißfallen nicht stören, und der Mutter war das weltliche Leben ganz genehm. Je mehr Kinder sie gehabt, je gesünder und stärker war sie geworden, und dieses Embonpoint machte sie nur noch schöner. Sie kleidete sich gut, hatte die angenehmsten Manieren, sprach mit großer Leichtigkeit, und da sie herzensgut und recht im Grunde eine freundliche Seele war, so gewann das Geringste, was sie für die Menschen that, einen besondern Anstrich und einen unschätzbaren Werth. Liebenswürdiger als meine Mutter habe ich nie eine Frau gesehen. Sie gefiel einem Jeden, und darum machte der Verkehr mit Andern ihr so große Freude.
Weil damals die Seidenwirkereien in Preußen noch nicht zahlreich waren, ermunterte und beschützte sie der Hof, und sie hatten denn auch andererseits einen lebhaften Absatz nach Rußland und nach Polen. So kam der Vater mit vornehmen Beamten vielfach in Berührung, die ihm nützlich sein konnten, und denen er dafür gern in seinem Hause eine stattliche Aufnahme bereitete, während durch seine Handelsfreunde viele Russen und Polen seiner Gastfreundschaft zugewiesen wurden. Es war also ein steter Wechsel von Fremden in unserem Hause, und da solch ein Umgang sich weiter und weiter verzweigt, so hatte die Mutter bald einen Zusammenhang mit der eleganten und schönen Gesellschaft von Berlin.
Und in jenen Tagen gab es noch eine Gesellschaft
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/22>, abgerufen am 16.02.2025. |