Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Sie hatte die Papiere sorgfältig geordnet, geheftet und die einzelnen Hefte numerirt. Das Umschlageblatt, das sie zusammenhielt, trug von ihrer kleinen und doch klaren Hand die Ueberschrift: "Aus meiner Jugendzeit". -- Darunter stand als Motto: "Was bildet den Menschen, als die Liebe!" Ich las den ganzen Abend. Die einfache und anspruchslose Erzählung trug den Stempel der offensten Wahrhaftigkeit und gab dadurch das treue Abbild eines Menschen und der Zeit, in der er sich bewegt. Kein Versprechen band mich, den Inhalt dieser Blätter zu verheimlichen, und es kam mir wie ein Unrecht vor, mich dieses sanften Daseins nur allein zu freuen, wenn Andere die gleiche Freude mit mir theilen und die Verstorbene lieben lernen konnten, wie ich selbst sie liebte. Ich habe nichts geändert an den Aufzeichnungen. Die kleinen Neigungen und Abneigungen, die Lebensansichten der Tante sprechen sich darin aus. Ein ganzer Menschenkreis tritt uns daraus entgegen. Es wehte mich eine besondere Beruhigung, eine stille Heiterkeit aus der Erzählung an, und indem ich die kleine Selbstbiographie der liebenswürdigen Frau hiemit einem weiteren Kreise übergebe, hoffe ich der Tante jetzt noch Liebe zu erwecken, wo sie selbst nicht mehr durch ihre Güte sie hervorzurufen vermag. Hier sind also die Hefte. Sie hatte die Papiere sorgfältig geordnet, geheftet und die einzelnen Hefte numerirt. Das Umschlageblatt, das sie zusammenhielt, trug von ihrer kleinen und doch klaren Hand die Ueberschrift: „Aus meiner Jugendzeit“. — Darunter stand als Motto: „Was bildet den Menschen, als die Liebe!“ Ich las den ganzen Abend. Die einfache und anspruchslose Erzählung trug den Stempel der offensten Wahrhaftigkeit und gab dadurch das treue Abbild eines Menschen und der Zeit, in der er sich bewegt. Kein Versprechen band mich, den Inhalt dieser Blätter zu verheimlichen, und es kam mir wie ein Unrecht vor, mich dieses sanften Daseins nur allein zu freuen, wenn Andere die gleiche Freude mit mir theilen und die Verstorbene lieben lernen konnten, wie ich selbst sie liebte. Ich habe nichts geändert an den Aufzeichnungen. Die kleinen Neigungen und Abneigungen, die Lebensansichten der Tante sprechen sich darin aus. Ein ganzer Menschenkreis tritt uns daraus entgegen. Es wehte mich eine besondere Beruhigung, eine stille Heiterkeit aus der Erzählung an, und indem ich die kleine Selbstbiographie der liebenswürdigen Frau hiemit einem weiteren Kreise übergebe, hoffe ich der Tante jetzt noch Liebe zu erwecken, wo sie selbst nicht mehr durch ihre Güte sie hervorzurufen vermag. Hier sind also die Hefte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0019"/> <p>Sie hatte die Papiere sorgfältig geordnet, geheftet und die einzelnen Hefte numerirt. Das Umschlageblatt, das sie zusammenhielt, trug von ihrer kleinen und doch klaren Hand die Ueberschrift: „Aus meiner Jugendzeit“. — Darunter stand als Motto: „Was bildet den Menschen, als die Liebe!“</p><lb/> <p>Ich las den ganzen Abend. Die einfache und anspruchslose Erzählung trug den Stempel der offensten Wahrhaftigkeit und gab dadurch das treue Abbild eines Menschen und der Zeit, in der er sich bewegt. Kein Versprechen band mich, den Inhalt dieser Blätter zu verheimlichen, und es kam mir wie ein Unrecht vor, mich dieses sanften Daseins nur allein zu freuen, wenn Andere die gleiche Freude mit mir theilen und die Verstorbene lieben lernen konnten, wie ich selbst sie liebte.</p><lb/> <p>Ich habe nichts geändert an den Aufzeichnungen. Die kleinen Neigungen und Abneigungen, die Lebensansichten der Tante sprechen sich darin aus. Ein ganzer Menschenkreis tritt uns daraus entgegen.</p><lb/> <p>Es wehte mich eine besondere Beruhigung, eine stille Heiterkeit aus der Erzählung an, und indem ich die kleine Selbstbiographie der liebenswürdigen Frau hiemit einem weiteren Kreise übergebe, hoffe ich der Tante jetzt noch Liebe zu erwecken, wo sie selbst nicht mehr durch ihre Güte sie hervorzurufen vermag. Hier sind also die Hefte.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
Sie hatte die Papiere sorgfältig geordnet, geheftet und die einzelnen Hefte numerirt. Das Umschlageblatt, das sie zusammenhielt, trug von ihrer kleinen und doch klaren Hand die Ueberschrift: „Aus meiner Jugendzeit“. — Darunter stand als Motto: „Was bildet den Menschen, als die Liebe!“
Ich las den ganzen Abend. Die einfache und anspruchslose Erzählung trug den Stempel der offensten Wahrhaftigkeit und gab dadurch das treue Abbild eines Menschen und der Zeit, in der er sich bewegt. Kein Versprechen band mich, den Inhalt dieser Blätter zu verheimlichen, und es kam mir wie ein Unrecht vor, mich dieses sanften Daseins nur allein zu freuen, wenn Andere die gleiche Freude mit mir theilen und die Verstorbene lieben lernen konnten, wie ich selbst sie liebte.
Ich habe nichts geändert an den Aufzeichnungen. Die kleinen Neigungen und Abneigungen, die Lebensansichten der Tante sprechen sich darin aus. Ein ganzer Menschenkreis tritt uns daraus entgegen.
Es wehte mich eine besondere Beruhigung, eine stille Heiterkeit aus der Erzählung an, und indem ich die kleine Selbstbiographie der liebenswürdigen Frau hiemit einem weiteren Kreise übergebe, hoffe ich der Tante jetzt noch Liebe zu erwecken, wo sie selbst nicht mehr durch ihre Güte sie hervorzurufen vermag. Hier sind also die Hefte.
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/19>, abgerufen am 16.02.2025. |