Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.richtete: Und du erkundigst dich nicht einmal, ob er dir, der Frau seines Wohlthäters, keinen Gruß gesendet? -- Ich dachte im Augenblick nur an die Gefahr, in der er schwebte, antwortete ich. -- Julie! rief meine Schwester, warum verbirgst du dich vor mir? Hältst du mich für so blind, daß ich nicht in deinem Herzen gelesen hätte? -- Ich war keiner Antwort mächtig, der Athem stockte mir fast in der Brust. Was ich aller Welt verborgen glaubte, das wußte Caroline, gerade Caroline. Mein erschrecktes Schweigen wurde ihr ein Zugeständniß. Sie nahm mich an der Hand und zog mich zu sich. Weißt du es nun, sagte sie, wie es schmerzt? Begreifst du es jetzt, was ich gelitten habe? Ich verstand sie nicht recht, denn ich sah keine Aehnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem meinigen, aber ich hatte so sehr das Bedürfniß, mir das Herz auszuweinen, daß ich erquickende Thränen an ihrer Brust vergoß. Sie hielt mich umfangen und streichelte mir das Gesicht. Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, daß wir uns so nahe kamen, daß sie mir wie eine ältere, beschützende Schwester erschien. Weißt du es noch, sprach sie, wie ich dich beklagte, als sie Alle so voll Freude waren über deine Heirath? --Ich erinnerte mich nur zu gut des unheimlichen Eindrucks, den ihre Worte mir an jenem Morgen gemacht, und hatte in diesen letzten Tagen oft mit meinen Gedanken darauf verweilt. Armes, armes Kind! sagte richtete: Und du erkundigst dich nicht einmal, ob er dir, der Frau seines Wohlthäters, keinen Gruß gesendet? — Ich dachte im Augenblick nur an die Gefahr, in der er schwebte, antwortete ich. — Julie! rief meine Schwester, warum verbirgst du dich vor mir? Hältst du mich für so blind, daß ich nicht in deinem Herzen gelesen hätte? — Ich war keiner Antwort mächtig, der Athem stockte mir fast in der Brust. Was ich aller Welt verborgen glaubte, das wußte Caroline, gerade Caroline. Mein erschrecktes Schweigen wurde ihr ein Zugeständniß. Sie nahm mich an der Hand und zog mich zu sich. Weißt du es nun, sagte sie, wie es schmerzt? Begreifst du es jetzt, was ich gelitten habe? Ich verstand sie nicht recht, denn ich sah keine Aehnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem meinigen, aber ich hatte so sehr das Bedürfniß, mir das Herz auszuweinen, daß ich erquickende Thränen an ihrer Brust vergoß. Sie hielt mich umfangen und streichelte mir das Gesicht. Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, daß wir uns so nahe kamen, daß sie mir wie eine ältere, beschützende Schwester erschien. Weißt du es noch, sprach sie, wie ich dich beklagte, als sie Alle so voll Freude waren über deine Heirath? —Ich erinnerte mich nur zu gut des unheimlichen Eindrucks, den ihre Worte mir an jenem Morgen gemacht, und hatte in diesen letzten Tagen oft mit meinen Gedanken darauf verweilt. Armes, armes Kind! sagte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0106"/> richtete: Und du erkundigst dich nicht einmal, ob er dir, der Frau seines Wohlthäters, keinen Gruß gesendet? — Ich dachte im Augenblick nur an die Gefahr, in der er schwebte, antwortete ich. — Julie! rief meine Schwester, warum verbirgst du dich vor mir? Hältst du mich für so blind, daß ich nicht in deinem Herzen gelesen hätte? — Ich war keiner Antwort mächtig, der Athem stockte mir fast in der Brust. Was ich aller Welt verborgen glaubte, das wußte Caroline, gerade Caroline. Mein erschrecktes Schweigen wurde ihr ein Zugeständniß. Sie nahm mich an der Hand und zog mich zu sich. Weißt du es nun, sagte sie, wie es schmerzt? Begreifst du es jetzt, was ich gelitten habe?</p><lb/> <p>Ich verstand sie nicht recht, denn ich sah keine Aehnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem meinigen, aber ich hatte so sehr das Bedürfniß, mir das Herz auszuweinen, daß ich erquickende Thränen an ihrer Brust vergoß. Sie hielt mich umfangen und streichelte mir das Gesicht. Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, daß wir uns so nahe kamen, daß sie mir wie eine ältere, beschützende Schwester erschien. Weißt du es noch, sprach sie, wie ich dich beklagte, als sie Alle so voll Freude waren über deine Heirath? —Ich erinnerte mich nur zu gut des unheimlichen Eindrucks, den ihre Worte mir an jenem Morgen gemacht, und hatte in diesen letzten Tagen oft mit meinen Gedanken darauf verweilt. Armes, armes Kind! sagte<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0106]
richtete: Und du erkundigst dich nicht einmal, ob er dir, der Frau seines Wohlthäters, keinen Gruß gesendet? — Ich dachte im Augenblick nur an die Gefahr, in der er schwebte, antwortete ich. — Julie! rief meine Schwester, warum verbirgst du dich vor mir? Hältst du mich für so blind, daß ich nicht in deinem Herzen gelesen hätte? — Ich war keiner Antwort mächtig, der Athem stockte mir fast in der Brust. Was ich aller Welt verborgen glaubte, das wußte Caroline, gerade Caroline. Mein erschrecktes Schweigen wurde ihr ein Zugeständniß. Sie nahm mich an der Hand und zog mich zu sich. Weißt du es nun, sagte sie, wie es schmerzt? Begreifst du es jetzt, was ich gelitten habe?
Ich verstand sie nicht recht, denn ich sah keine Aehnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem meinigen, aber ich hatte so sehr das Bedürfniß, mir das Herz auszuweinen, daß ich erquickende Thränen an ihrer Brust vergoß. Sie hielt mich umfangen und streichelte mir das Gesicht. Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, daß wir uns so nahe kamen, daß sie mir wie eine ältere, beschützende Schwester erschien. Weißt du es noch, sprach sie, wie ich dich beklagte, als sie Alle so voll Freude waren über deine Heirath? —Ich erinnerte mich nur zu gut des unheimlichen Eindrucks, den ihre Worte mir an jenem Morgen gemacht, und hatte in diesen letzten Tagen oft mit meinen Gedanken darauf verweilt. Armes, armes Kind! sagte
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/106>, abgerufen am 26.07.2024. |