Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.der Häuslichkeit erschienen ist, das habe ich noch heute nicht vergessen. Die Stube kam mir wie ein Gefängniß vor, die Häuser drüben, die schon grau im Schatten lagen, wie Steingebirge. Ich hätte, ich weiß nicht was, darum gegeben, hinauslaufen zu können in das Freie, immer der sinkenden Sonne nach ohne Plan, ohne Ziel, nur vorwärts, nur fort, nur laufen, bis in die tiefe, tiefe Nacht, bis in die weite, weite Ferne! -- und ich wagte nicht, das Zimmer zu verlassen, aus Furcht vor der Frage, wohin ich gehe, weßhalb ich nicht bei den Andern bleibe? Die bürgerliche Erziehung birgt neben ihren Vorzügen ein Element der Sklaverei in sich, von der jede Frau zu leiden hat. Nach diesem Abende gingen zwei Tage für mich ohne inneres Merkmal hin. Unter dem Vorwand der Krankheit blieb ich aus dem Hause des Ministers fort, und ich war wirklich nichts weniger als gesund. Caroline, die täglich hinging, und die ich fragte, wen sie dort gesehen habe und was dort vorgefallen sei, berichtete Alles, nannte aber Klemenz nicht, und nach ihm zu fragen, fehlte mir der Muth. Endlich am dritten Abende kam sie früher als gewöhnlich heim und trat mit dem Ausrufe in das Zimmer: Denkt euch, Klemenz ist gefährlich krank! -- Wer sagte dies? was fehlt ihm? fragte die Mutter, der sein mildes Wesen und sein edler Sinn ihn längst schon werth gemacht, und es war gut, daß meine Mutter die Frage stellte, denn ich wäre nicht fähig der Häuslichkeit erschienen ist, das habe ich noch heute nicht vergessen. Die Stube kam mir wie ein Gefängniß vor, die Häuser drüben, die schon grau im Schatten lagen, wie Steingebirge. Ich hätte, ich weiß nicht was, darum gegeben, hinauslaufen zu können in das Freie, immer der sinkenden Sonne nach ohne Plan, ohne Ziel, nur vorwärts, nur fort, nur laufen, bis in die tiefe, tiefe Nacht, bis in die weite, weite Ferne! — und ich wagte nicht, das Zimmer zu verlassen, aus Furcht vor der Frage, wohin ich gehe, weßhalb ich nicht bei den Andern bleibe? Die bürgerliche Erziehung birgt neben ihren Vorzügen ein Element der Sklaverei in sich, von der jede Frau zu leiden hat. Nach diesem Abende gingen zwei Tage für mich ohne inneres Merkmal hin. Unter dem Vorwand der Krankheit blieb ich aus dem Hause des Ministers fort, und ich war wirklich nichts weniger als gesund. Caroline, die täglich hinging, und die ich fragte, wen sie dort gesehen habe und was dort vorgefallen sei, berichtete Alles, nannte aber Klemenz nicht, und nach ihm zu fragen, fehlte mir der Muth. Endlich am dritten Abende kam sie früher als gewöhnlich heim und trat mit dem Ausrufe in das Zimmer: Denkt euch, Klemenz ist gefährlich krank! — Wer sagte dies? was fehlt ihm? fragte die Mutter, der sein mildes Wesen und sein edler Sinn ihn längst schon werth gemacht, und es war gut, daß meine Mutter die Frage stellte, denn ich wäre nicht fähig <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0100"/> der Häuslichkeit erschienen ist, das habe ich noch heute nicht vergessen. Die Stube kam mir wie ein Gefängniß vor, die Häuser drüben, die schon grau im Schatten lagen, wie Steingebirge. Ich hätte, ich weiß nicht was, darum gegeben, hinauslaufen zu können in das Freie, immer der sinkenden Sonne nach ohne Plan, ohne Ziel, nur vorwärts, nur fort, nur laufen, bis in die tiefe, tiefe Nacht, bis in die weite, weite Ferne! — und ich wagte nicht, das Zimmer zu verlassen, aus Furcht vor der Frage, wohin ich gehe, weßhalb ich nicht bei den Andern bleibe? Die bürgerliche Erziehung birgt neben ihren Vorzügen ein Element der Sklaverei in sich, von der jede Frau zu leiden hat.</p><lb/> <p>Nach diesem Abende gingen zwei Tage für mich ohne inneres Merkmal hin. Unter dem Vorwand der Krankheit blieb ich aus dem Hause des Ministers fort, und ich war wirklich nichts weniger als gesund. Caroline, die täglich hinging, und die ich fragte, wen sie dort gesehen habe und was dort vorgefallen sei, berichtete Alles, nannte aber Klemenz nicht, und nach ihm zu fragen, fehlte mir der Muth.</p><lb/> <p>Endlich am dritten Abende kam sie früher als gewöhnlich heim und trat mit dem Ausrufe in das Zimmer: Denkt euch, Klemenz ist gefährlich krank! — Wer sagte dies? was fehlt ihm? fragte die Mutter, der sein mildes Wesen und sein edler Sinn ihn längst schon werth gemacht, und es war gut, daß meine Mutter die Frage stellte, denn ich wäre nicht fähig<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0100]
der Häuslichkeit erschienen ist, das habe ich noch heute nicht vergessen. Die Stube kam mir wie ein Gefängniß vor, die Häuser drüben, die schon grau im Schatten lagen, wie Steingebirge. Ich hätte, ich weiß nicht was, darum gegeben, hinauslaufen zu können in das Freie, immer der sinkenden Sonne nach ohne Plan, ohne Ziel, nur vorwärts, nur fort, nur laufen, bis in die tiefe, tiefe Nacht, bis in die weite, weite Ferne! — und ich wagte nicht, das Zimmer zu verlassen, aus Furcht vor der Frage, wohin ich gehe, weßhalb ich nicht bei den Andern bleibe? Die bürgerliche Erziehung birgt neben ihren Vorzügen ein Element der Sklaverei in sich, von der jede Frau zu leiden hat.
Nach diesem Abende gingen zwei Tage für mich ohne inneres Merkmal hin. Unter dem Vorwand der Krankheit blieb ich aus dem Hause des Ministers fort, und ich war wirklich nichts weniger als gesund. Caroline, die täglich hinging, und die ich fragte, wen sie dort gesehen habe und was dort vorgefallen sei, berichtete Alles, nannte aber Klemenz nicht, und nach ihm zu fragen, fehlte mir der Muth.
Endlich am dritten Abende kam sie früher als gewöhnlich heim und trat mit dem Ausrufe in das Zimmer: Denkt euch, Klemenz ist gefährlich krank! — Wer sagte dies? was fehlt ihm? fragte die Mutter, der sein mildes Wesen und sein edler Sinn ihn längst schon werth gemacht, und es war gut, daß meine Mutter die Frage stellte, denn ich wäre nicht fähig
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/100 |
Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/100>, abgerufen am 26.07.2024. |