"So ist er arm und seine Stellung der Deinen zu ungleich?" fragte Frau von Meining.
"Kennst Du meinen Vater und mich so wenig", entgegnete Jenny im Tone des Vor- wurfs, "zu glauben, daß dergleichen uns irren könnte? Nein, im Gegentheile, Walter ist es, der mich liebt, und dessen Liebe ich fürchte."
"Walter!" rief die Geheimräthin erfreut und setzte dann hinzu: "Du bist unwahr gegen Dich oder mich. Walter's Liebe kann Dir nicht un- willkommen sein, denn gleichgültig ist er Dir nicht."
"Auch habe ich das nicht behauptet," ant- wortete Jenny. "Aber ich habe durch meine Verlobung mit Reinhard so viel gelitten, mich so an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere, neuen Stürmen ausgesetzt zu sein. Ich habe in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder -- denn auch Joseph ist mir ein Bruder -- in der Kunst mir eine Welt geschaffen, in der
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„So iſt er arm und ſeine Stellung der Deinen zu ungleich?“ fragte Frau von Meining.
„Kennſt Du meinen Vater und mich ſo wenig“, entgegnete Jenny im Tone des Vor- wurfs, „zu glauben, daß dergleichen uns irren könnte? Nein, im Gegentheile, Walter iſt es, der mich liebt, und deſſen Liebe ich fürchte.“
„Walter!“ rief die Geheimräthin erfreut und ſetzte dann hinzu: „Du biſt unwahr gegen Dich oder mich. Walter's Liebe kann Dir nicht un- willkommen ſein, denn gleichgültig iſt er Dir nicht.“
„Auch habe ich das nicht behauptet,“ ant- wortete Jenny. „Aber ich habe durch meine Verlobung mit Reinhard ſo viel gelitten, mich ſo an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere, neuen Stürmen ausgeſetzt zu ſein. Ich habe in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder — denn auch Joſeph iſt mir ein Bruder — in der Kunſt mir eine Welt geſchaffen, in der
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„So iſt er arm und ſeine Stellung der
Deinen zu ungleich?“ fragte Frau von Meining.
„Kennſt Du meinen Vater und mich ſo
wenig“, entgegnete Jenny im Tone des Vor-
wurfs, „zu glauben, daß dergleichen uns irren
könnte? Nein, im Gegentheile, Walter iſt es,
der mich liebt, und deſſen Liebe ich fürchte.“
„Walter!“ rief die Geheimräthin erfreut und
ſetzte dann hinzu: „Du biſt unwahr gegen Dich
oder mich. Walter's Liebe kann Dir nicht un-
willkommen ſein, denn gleichgültig iſt er Dir nicht.“
„Auch habe ich das nicht behauptet,“ ant-
wortete Jenny. „Aber ich habe durch meine
Verlobung mit Reinhard ſo viel gelitten, mich
ſo an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich
jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere,
neuen Stürmen ausgeſetzt zu ſein. Ich habe
in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder
— denn auch Joſeph iſt mir ein Bruder —
in der Kunſt mir eine Welt geſchaffen, in der
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/235>, abgerufen am 26.11.2024.
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