nisse kein Geheimniß bleiben konnten, hatte wahres Mitleid mit Jenny, die sich in stiller Ergebung zu fassen versuchte, was bei ihrem heftigen Charakter um so rührender erschien.
Ebenso traurig sah es bei Reinhard und seiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief wie ein Blitzstrahl aus heiterm Himmel getroffen und er war Anfangs keiner Empfindung, kei- nes Gedankens mächtig gewesen. Nur das Be- wußtsein, daß ihn ein großes unersetzliches Un- glück getroffen habe, stand klar vor seiner Seele. "Wie war das möglich, wie hatte das gesche- hen können?" fragte er sich und saß in starrer Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu- kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte. Sie fragte, was ihm geschehen sei, und statt aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's Brief hin, der auch auf die Matrone den schmerz- lichsten Eindruck zu machen nicht verfehlte.
niſſe kein Geheimniß bleiben konnten, hatte wahres Mitleid mit Jenny, die ſich in ſtiller Ergebung zu faſſen verſuchte, was bei ihrem heftigen Charakter um ſo rührender erſchien.
Ebenſo traurig ſah es bei Reinhard und ſeiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief wie ein Blitzſtrahl aus heiterm Himmel getroffen und er war Anfangs keiner Empfindung, kei- nes Gedankens mächtig geweſen. Nur das Be- wußtſein, daß ihn ein großes unerſetzliches Un- glück getroffen habe, ſtand klar vor ſeiner Seele. „Wie war das möglich, wie hatte das geſche- hen können?“ fragte er ſich und ſaß in ſtarrer Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu- kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte. Sie fragte, was ihm geſchehen ſei, und ſtatt aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's Brief hin, der auch auf die Matrone den ſchmerz- lichſten Eindruck zu machen nicht verfehlte.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0146"n="136"/>
niſſe kein Geheimniß bleiben konnten, hatte<lb/>
wahres Mitleid mit Jenny, die ſich in ſtiller<lb/>
Ergebung zu faſſen verſuchte, was bei ihrem<lb/>
heftigen Charakter um ſo rührender erſchien.</p><lb/><p>Ebenſo traurig ſah es bei Reinhard und<lb/>ſeiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief<lb/>
wie ein Blitzſtrahl aus heiterm Himmel getroffen<lb/>
und er war Anfangs keiner Empfindung, kei-<lb/>
nes Gedankens mächtig geweſen. Nur das Be-<lb/>
wußtſein, daß ihn ein großes unerſetzliches Un-<lb/>
glück getroffen habe, ſtand klar vor ſeiner Seele.<lb/>„Wie war das möglich, wie hatte das geſche-<lb/>
hen können?“ fragte er ſich und ſaß in ſtarrer<lb/>
Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu-<lb/>
kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen<lb/>
Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte.<lb/>
Sie fragte, was ihm geſchehen ſei, und ſtatt<lb/>
aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's<lb/>
Brief hin, der auch auf die Matrone den ſchmerz-<lb/>
lichſten Eindruck zu machen nicht verfehlte.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[136/0146]
niſſe kein Geheimniß bleiben konnten, hatte
wahres Mitleid mit Jenny, die ſich in ſtiller
Ergebung zu faſſen verſuchte, was bei ihrem
heftigen Charakter um ſo rührender erſchien.
Ebenſo traurig ſah es bei Reinhard und
ſeiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief
wie ein Blitzſtrahl aus heiterm Himmel getroffen
und er war Anfangs keiner Empfindung, kei-
nes Gedankens mächtig geweſen. Nur das Be-
wußtſein, daß ihn ein großes unerſetzliches Un-
glück getroffen habe, ſtand klar vor ſeiner Seele.
„Wie war das möglich, wie hatte das geſche-
hen können?“ fragte er ſich und ſaß in ſtarrer
Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu-
kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen
Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte.
Sie fragte, was ihm geſchehen ſei, und ſtatt
aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's
Brief hin, der auch auf die Matrone den ſchmerz-
lichſten Eindruck zu machen nicht verfehlte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/146>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.