Zweifels behüten könne. Dem Pastor wurde diese Richtung gleich in dieser ersten Unterre- dung klar. Er errieth, daß kein inneres Be- dürfniß, sondern nur Liebe zu Reinhard das Motiv sei, welches sie dem Christenthume ent- gegenführe, und er tadelte sie deshalb nicht. Ein langes Leben hatte ihn zu der Ueberzeu- gung gebracht, die er in früher Jugend mit orthodoxer Strenge bekämpft, daß man Christ sein könne ohne den Glauben an die christli- chen Dogmen, und er war, einmal zu dieser Erkenntniß gelangt, ernstlich mit sich zu Rathe gegangen, ob diese Ansicht ihn nicht zwinge, sein Amt niederzulegen. Mit dem gewissen- haftesten Eifer hatte er die Lehre Jesu und sich selbst geprüft und sich dadurch in der Ueber- zeugung befestigt, daß Liebe und Duldung nebst fortschreitender geistiger Entwickelung die Grundzüge des Christenthums und besonders des Protestantismus ausmachten. In diesem
Zweifels behüten könne. Dem Paſtor wurde dieſe Richtung gleich in dieſer erſten Unterre- dung klar. Er errieth, daß kein inneres Be- dürfniß, ſondern nur Liebe zu Reinhard das Motiv ſei, welches ſie dem Chriſtenthume ent- gegenführe, und er tadelte ſie deshalb nicht. Ein langes Leben hatte ihn zu der Ueberzeu- gung gebracht, die er in früher Jugend mit orthodoxer Strenge bekämpft, daß man Chriſt ſein könne ohne den Glauben an die chriſtli- chen Dogmen, und er war, einmal zu dieſer Erkenntniß gelangt, ernſtlich mit ſich zu Rathe gegangen, ob dieſe Anſicht ihn nicht zwinge, ſein Amt niederzulegen. Mit dem gewiſſen- hafteſten Eifer hatte er die Lehre Jeſu und ſich ſelbſt geprüft und ſich dadurch in der Ueber- zeugung befeſtigt, daß Liebe und Duldung nebſt fortſchreitender geiſtiger Entwickelung die Grundzüge des Chriſtenthums und beſonders des Proteſtantismus ausmachten. In dieſem
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Zweifels behüten könne. Dem Paſtor wurde
dieſe Richtung gleich in dieſer erſten Unterre-
dung klar. Er errieth, daß kein inneres Be-
dürfniß, ſondern nur Liebe zu Reinhard das
Motiv ſei, welches ſie dem Chriſtenthume ent-
gegenführe, und er tadelte ſie deshalb nicht.
Ein langes Leben hatte ihn zu der Ueberzeu-
gung gebracht, die er in früher Jugend mit
orthodoxer Strenge bekämpft, daß man Chriſt
ſein könne ohne den Glauben an die chriſtli-
chen Dogmen, und er war, einmal zu dieſer
Erkenntniß gelangt, ernſtlich mit ſich zu Rathe
gegangen, ob dieſe Anſicht ihn nicht zwinge,
ſein Amt niederzulegen. Mit dem gewiſſen-
hafteſten Eifer hatte er die Lehre Jeſu und ſich
ſelbſt geprüft und ſich dadurch in der Ueber-
zeugung befeſtigt, daß Liebe und Duldung
nebſt fortſchreitender geiſtiger Entwickelung die
Grundzüge des Chriſtenthums und beſonders
des Proteſtantismus ausmachten. In dieſem
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/314>, abgerufen am 25.11.2024.
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