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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843.

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für das Leiden auf dieser Welt; und ich
wünschte besonders, daß es mir möglich wäre,
die heiligsten Interessen des Menschen auf die-
selbe Art aufzufassen, wie mein Bräutigam.
Mit Einem Worte, ich möchte Gott erkennen
und das Leben begreifen, wie Christus es lehrt,
ich möchte Christin werden, dem Herzen nach.
-- Lehren Sie mich das, sagte sie, und ich
werde es Ihnen ewig denken!"

Der alte Mann gab ihr die Hand und
sah sie lange an, ohne zu sprechen. Er er-
kannte in Jenny einen ungewöhnlich gebildeten
Geist, der dabei seine ursprüngliche Kindlichkeit
behalten hatte und in dem sich das Streben nach
Klarheit auf sonderbare Weise mit einem poeti-
schen Gemüthe vereinte. In Folge dessen liebte
Jenny es, Gedanken, die sie sich nicht ganz deut-
lich zu machen wußte, in einen duftigen poe-
tischen Schleier zu hüllen, als ob sie sie da-
durch vor der entweihenden Berührung des

für das Leiden auf dieſer Welt; und ich
wünſchte beſonders, daß es mir möglich wäre,
die heiligſten Intereſſen des Menſchen auf die-
ſelbe Art aufzufaſſen, wie mein Bräutigam.
Mit Einem Worte, ich möchte Gott erkennen
und das Leben begreifen, wie Chriſtus es lehrt,
ich möchte Chriſtin werden, dem Herzen nach.
— Lehren Sie mich das, ſagte ſie, und ich
werde es Ihnen ewig denken!“

Der alte Mann gab ihr die Hand und
ſah ſie lange an, ohne zu ſprechen. Er er-
kannte in Jenny einen ungewöhnlich gebildeten
Geiſt, der dabei ſeine urſprüngliche Kindlichkeit
behalten hatte und in dem ſich das Streben nach
Klarheit auf ſonderbare Weiſe mit einem poeti-
ſchen Gemüthe vereinte. In Folge deſſen liebte
Jenny es, Gedanken, die ſie ſich nicht ganz deut-
lich zu machen wußte, in einen duftigen poe-
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durch vor der entweihenden Berührung des

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[305/0313] für das Leiden auf dieſer Welt; und ich wünſchte beſonders, daß es mir möglich wäre, die heiligſten Intereſſen des Menſchen auf die- ſelbe Art aufzufaſſen, wie mein Bräutigam. Mit Einem Worte, ich möchte Gott erkennen und das Leben begreifen, wie Chriſtus es lehrt, ich möchte Chriſtin werden, dem Herzen nach. — Lehren Sie mich das, ſagte ſie, und ich werde es Ihnen ewig denken!“ Der alte Mann gab ihr die Hand und ſah ſie lange an, ohne zu ſprechen. Er er- kannte in Jenny einen ungewöhnlich gebildeten Geiſt, der dabei ſeine urſprüngliche Kindlichkeit behalten hatte und in dem ſich das Streben nach Klarheit auf ſonderbare Weiſe mit einem poeti- ſchen Gemüthe vereinte. In Folge deſſen liebte Jenny es, Gedanken, die ſie ſich nicht ganz deut- lich zu machen wußte, in einen duftigen poe- tiſchen Schleier zu hüllen, als ob ſie ſie da- durch vor der entweihenden Berührung des

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/313>, abgerufen am 25.11.2024.