habe sie am Morgen Thränen der tiefsten Rührung vergießen sehen über Empfindungen, die sie am Abend spottend verlachte; und oft, wenn ihr schönes Auge mich zu den seligsten Hoffnungen berechtigte, verletzte im nächsten Momente ihr kaltes Wort mich so schwer, daß ich schon tausendmal entschlossen war, sie für immer zu fliehen. Und sie zu fliehen, sie nicht zu sehen, Mutter! von Jenny zu scheiden, ver- mag ich nicht mehr." Beide schwiegen, und die Pfarrerin weinte still.
"Neulich", fuhr er nach einer Weile fort, "hörte sie von dem Unglück einer armen Fa- milie sprechen; sie war sehr bewegt und doch so klug und ruhig in den Hülfsleistungen, die sie anbot. Sie war gerührt wie ein Weib, und klar verständig wie ein Mann. Hoch er- freut betrachtete ich sie, wie sie geschäftig alles Nöthige ordnete und aus Kisten und Schränken zusammentrug, was irgend der augenblicklichen
habe ſie am Morgen Thränen der tiefſten Rührung vergießen ſehen über Empfindungen, die ſie am Abend ſpottend verlachte; und oft, wenn ihr ſchönes Auge mich zu den ſeligſten Hoffnungen berechtigte, verletzte im nächſten Momente ihr kaltes Wort mich ſo ſchwer, daß ich ſchon tauſendmal entſchloſſen war, ſie für immer zu fliehen. Und ſie zu fliehen, ſie nicht zu ſehen, Mutter! von Jenny zu ſcheiden, ver- mag ich nicht mehr.“ Beide ſchwiegen, und die Pfarrerin weinte ſtill.
„Neulich“, fuhr er nach einer Weile fort, „hörte ſie von dem Unglück einer armen Fa- milie ſprechen; ſie war ſehr bewegt und doch ſo klug und ruhig in den Hülfsleiſtungen, die ſie anbot. Sie war gerührt wie ein Weib, und klar verſtändig wie ein Mann. Hoch er- freut betrachtete ich ſie, wie ſie geſchäftig alles Nöthige ordnete und aus Kiſten und Schränken zuſammentrug, was irgend der augenblicklichen
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habe ſie am Morgen Thränen der tiefſten
Rührung vergießen ſehen über Empfindungen,
die ſie am Abend ſpottend verlachte; und oft,
wenn ihr ſchönes Auge mich zu den ſeligſten
Hoffnungen berechtigte, verletzte im nächſten
Momente ihr kaltes Wort mich ſo ſchwer, daß
ich ſchon tauſendmal entſchloſſen war, ſie für
immer zu fliehen. Und ſie zu fliehen, ſie nicht
zu ſehen, Mutter! von Jenny zu ſcheiden, ver-
mag ich nicht mehr.“ Beide ſchwiegen, und
die Pfarrerin weinte ſtill.
„Neulich“, fuhr er nach einer Weile fort,
„hörte ſie von dem Unglück einer armen Fa-
milie ſprechen; ſie war ſehr bewegt und doch
ſo klug und ruhig in den Hülfsleiſtungen, die
ſie anbot. Sie war gerührt wie ein Weib,
und klar verſtändig wie ein Mann. Hoch er-
freut betrachtete ich ſie, wie ſie geſchäftig alles
Nöthige ordnete und aus Kiſten und Schränken
zuſammentrug, was irgend der augenblicklichen
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/188>, abgerufen am 25.11.2024.
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