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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843.

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predigt der Commerzienräthin aushalten müssen,
gegen welche er sehr vernünftige Argumente an-
geführt. Clara war jetzt ganz seiner Ansicht,
und gestand sich selbst, daß William ein guter,
verständiger Mensch sei -- aber Meier war mehr.
Sie mußte an sein klares, kluges Auge denken, an
die freie Stirne, und die jüdischen Umrisse sei-
nes Gesichts kamen ihr fast schön vor. "Ob
Christus wol auch ähnliche Züge gehabt haben
mochte?" fragte sie sich, und sank bald in ei-
nen Schlummer, in dessen Träumen William,
Meier und der Heiland, wie ihn Leonardo's
Abendmahl schildert, bunt in einander ver-
schwebten, und aus dem sie erst am frühen
Morgen bedeutend gestärkt erwachte.

Weniger ruhig sollte dem armen Eduard
die Nacht vergehen. Während ihn Jenny längst
mit seiner schönen Kranken aufzog, und seine
Mutter an jenem Abend das Geheimniß seines
Herzens entdeckt zu haben glaubte, ja mit müt-

predigt der Commerzienräthin aushalten müſſen,
gegen welche er ſehr vernünftige Argumente an-
geführt. Clara war jetzt ganz ſeiner Anſicht,
und geſtand ſich ſelbſt, daß William ein guter,
verſtändiger Menſch ſei — aber Meier war mehr.
Sie mußte an ſein klares, kluges Auge denken, an
die freie Stirne, und die jüdiſchen Umriſſe ſei-
nes Geſichts kamen ihr faſt ſchön vor. „Ob
Chriſtus wol auch ähnliche Züge gehabt haben
mochte?“ fragte ſie ſich, und ſank bald in ei-
nen Schlummer, in deſſen Träumen William,
Meier und der Heiland, wie ihn Leonardo's
Abendmahl ſchildert, bunt in einander ver-
ſchwebten, und aus dem ſie erſt am frühen
Morgen bedeutend geſtärkt erwachte.

Weniger ruhig ſollte dem armen Eduard
die Nacht vergehen. Während ihn Jenny längſt
mit ſeiner ſchönen Kranken aufzog, und ſeine
Mutter an jenem Abend das Geheimniß ſeines
Herzens entdeckt zu haben glaubte, ja mit müt-

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[130/0142] predigt der Commerzienräthin aushalten müſſen, gegen welche er ſehr vernünftige Argumente an- geführt. Clara war jetzt ganz ſeiner Anſicht, und geſtand ſich ſelbſt, daß William ein guter, verſtändiger Menſch ſei — aber Meier war mehr. Sie mußte an ſein klares, kluges Auge denken, an die freie Stirne, und die jüdiſchen Umriſſe ſei- nes Geſichts kamen ihr faſt ſchön vor. „Ob Chriſtus wol auch ähnliche Züge gehabt haben mochte?“ fragte ſie ſich, und ſank bald in ei- nen Schlummer, in deſſen Träumen William, Meier und der Heiland, wie ihn Leonardo's Abendmahl ſchildert, bunt in einander ver- ſchwebten, und aus dem ſie erſt am frühen Morgen bedeutend geſtärkt erwachte. Weniger ruhig ſollte dem armen Eduard die Nacht vergehen. Während ihn Jenny längſt mit ſeiner ſchönen Kranken aufzog, und ſeine Mutter an jenem Abend das Geheimniß ſeines Herzens entdeckt zu haben glaubte, ja mit müt-

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/142>, abgerufen am 24.11.2024.