[Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Andrer Theil. Halle (Saale), 1753.Leben und Thaten der liefländischen Ordensmeister, 1560Als Vellin am 22sten August übergegangen, theilte sich das rußische Heer in nach können. Brakel *), welcher das Uuglück in Liefland kläglich genug vorstellet, und die Russen ziemlich grausam beschreibet, giebt deutlich zu verstehen, daß das Schre- cken und die Furcht grösser gewesen, als die Erfahrung es gerechtfertiget. Er selbst wurde als evangelischer Prediger zu Dörpt auf lügenhaftes Angeben 1559 in Stri- cken und eisernen Fusbanden nach Moskau gebracht, genos aber auch in Plescow viele Liebe, wo die alten Deutschen Kaufleute ihm Reisegeld gaben. Jn Nogar- den schenkte ihm der Stathalter die Freiheit von Banden, und in Moskau selbst wurde ihm viel Gutes erwiesen. Er rühmet an den Russen, daß sie ihm auch in den Banden sein priesterlich Amt frey treiben lassen, da doch die Prediger augspurgischer Confeßion in Dörpt viel von den Catholiken deswegen leiden müssen. Einigen Ge- fangenen gab der Czaar Freiheit zurück zu kehren, worunter der ehrliche Mag. Joh. Wettermann **), Pastor der Kirche zu Unsrer lieben Frauen in Dörpt war, und daselbst 1564 starb. Was die Geschichtschreiber, einheimische und fremde, von den unmenschlichen Grausamkeiten einer damals ungesitteten Nation melden, darf nicht schlechterdings geleugnet werden. Doch lies es die Parteilichkeit nicht anders zu, als aus einer Geschichte 100 Historien mit eben so viel angehengten pöbelhaften Erzehlun- gen zu machen, und von einem einzelnen Fal auf alles zu schliessen. Wie schön mach- ten es die kaiserlichen Soldaten in dem 30 jährigen Kriege, die Franzosen und Spa- nier in der Pfalz, die man doch für christliche und gesittete Völker hielt? Die ganz neue Historie unsrer Zeiten hat ja noch kläglichere Vorfälle aufzuweisen. Es ist aller- dings wahr, daß die mehresten Leute von den Feindseligkeiten der Russen gräslichere Vorstellungen gehabt, als sie hätten haben sollen. Was machen die Geschichtschreiber von der Tragödie zu Wenden 1577 nicht für ein Aufheben, da viel 100 Personen aus Furcht vor dem Feinde sich auf dem Schlosse zu Wenden in die Luft sprengten? Sie sind wol gar auf die damaligen Prediger in Riga ungehalten, wenn sie wieder diesen heroischen Selbstmord geeifert. Jn den Umständen worin sich der Czaar befand, hät- te sich ja wol die gröste Sanftmuth in Zorn verwandeln müssen, da er die Vornehm- sten Jnnehaber eines belagerten und fast eingeschossenen Schlosses zu seinen Füssen lie- gen sahe, und ihnen das Leben schenkte, mitten unter seiner Begnadigung aber die Kugeln um sein Haupt sausen und brausen hörete. Siehe Henning S. 136. *) Timan Brakel, ein Liefländer, schrieb als augspurgischer Confeßion Prediger zu Antdorf 1579 in 8. Rhythmos de excidio Liuoniae. Nachdem er aus Rußland wieder in Freiheit gekommen, berief ihn der dänische Landshauptman Claus von Ungern nach Oesel zum Pastor auf Piha, wo er aber der vielen Bemühungen dieses rechtschaffenen Herrn ohnerachtet ziemlichen Wider- stand antraf, und daher den Einfal der Russen auf Oesel als ein göttliches Strafgericht herleitet. Die armen Leute waren so vol Angst, daß die Bauren beim Anzuge der Russen in die pihaische Kirche flüchteten, und auf den Kirchthurm stiegen. Als aber die Russen die mit Stroh gedeckte Kirche in Brand steckten, warfen die Mütter aus Verzweifelung ihre im Rauch winselnden Kin- der selbst vom Thurm herunter ins Feuer, damit der Feind ihr Geschrey nicht hören solte. **) Dieser gelehrte Man war beim Czaar sehr wohl angeschrieben, und muste die vortrefliche czaarische
Bibliothek in Ordnung bringen, welche ehmals aus Rom gekommen, und wol über 100 Jahr hinter drey Gewölbern versteckt gelegen. Er war seiner Gemeine freiwillig in die Gefangen- schaft gefolget, und hatte sie bald zu Pferde bald zu Fus von einer Stadt zur andern aufgesucht, sie getröstet, und überal Schulmeister verordnet, die ihnen die Postille vorlesen musten. Nach Neustädts Rechnung ist dieser Wettermann erst 1565 aus Dörpt den damals weggeführten Bürgern nachgezogen, und hat wol Brakel in der Bestimmung seines Todesjahrs geirret. Leben und Thaten der lieflaͤndiſchen Ordensmeiſter, 1560Als Vellin am 22ſten Auguſt uͤbergegangen, theilte ſich das rußiſche Heer in nach koͤnnen. Brakel *), welcher das Uugluͤck in Liefland klaͤglich genug vorſtellet, und die Ruſſen ziemlich grauſam beſchreibet, giebt deutlich zu verſtehen, daß das Schre- cken und die Furcht groͤſſer geweſen, als die Erfahrung es gerechtfertiget. Er ſelbſt wurde als evangeliſcher Prediger zu Doͤrpt auf luͤgenhaftes Angeben 1559 in Stri- cken und eiſernen Fusbanden nach Moskau gebracht, genos aber auch in Plescow viele Liebe, wo die alten Deutſchen Kaufleute ihm Reiſegeld gaben. Jn Nogar- den ſchenkte ihm der Stathalter die Freiheit von Banden, und in Moskau ſelbſt wurde ihm viel Gutes erwieſen. Er ruͤhmet an den Ruſſen, daß ſie ihm auch in den Banden ſein prieſterlich Amt frey treiben laſſen, da doch die Prediger augſpurgiſcher Confeßion in Doͤrpt viel von den Catholiken deswegen leiden muͤſſen. Einigen Ge- fangenen gab der Czaar Freiheit zuruͤck zu kehren, worunter der ehrliche Mag. Joh. Wettermann **), Paſtor der Kirche zu Unſrer lieben Frauen in Doͤrpt war, und daſelbſt 1564 ſtarb. Was die Geſchichtſchreiber, einheimiſche und fremde, von den unmenſchlichen Grauſamkeiten einer damals ungeſitteten Nation melden, darf nicht ſchlechterdings geleugnet werden. Doch lies es die Parteilichkeit nicht anders zu, als aus einer Geſchichte 100 Hiſtorien mit eben ſo viel angehengten poͤbelhaften Erzehlun- gen zu machen, und von einem einzelnen Fal auf alles zu ſchlieſſen. Wie ſchoͤn mach- ten es die kaiſerlichen Soldaten in dem 30 jaͤhrigen Kriege, die Franzoſen und Spa- nier in der Pfalz, die man doch fuͤr chriſtliche und geſittete Voͤlker hielt? Die ganz neue Hiſtorie unſrer Zeiten hat ja noch klaͤglichere Vorfaͤlle aufzuweiſen. Es iſt aller- dings wahr, daß die mehreſten Leute von den Feindſeligkeiten der Ruſſen graͤslichere Vorſtellungen gehabt, als ſie haͤtten haben ſollen. Was machen die Geſchichtſchreiber von der Tragoͤdie zu Wenden 1577 nicht fuͤr ein Aufheben, da viel 100 Perſonen aus Furcht vor dem Feinde ſich auf dem Schloſſe zu Wenden in die Luft ſprengten? Sie ſind wol gar auf die damaligen Prediger in Riga ungehalten, wenn ſie wieder dieſen heroiſchen Selbſtmord geeifert. Jn den Umſtaͤnden worin ſich der Czaar befand, haͤt- te ſich ja wol die groͤſte Sanftmuth in Zorn verwandeln muͤſſen, da er die Vornehm- ſten Jnnehaber eines belagerten und faſt eingeſchoſſenen Schloſſes zu ſeinen Fuͤſſen lie- gen ſahe, und ihnen das Leben ſchenkte, mitten unter ſeiner Begnadigung aber die Kugeln um ſein Haupt ſauſen und brauſen hoͤrete. Siehe Henning S. 136. *) Timan Brakel, ein Lieflaͤnder, ſchrieb als augſpurgiſcher Confeßion Prediger zu Antdorf 1579 in 8. Rhythmos de excidio Liuoniae. Nachdem er aus Rußland wieder in Freiheit gekommen, berief ihn der daͤniſche Landshauptman Claus von Ungern nach Oeſel zum Paſtor auf Piha, wo er aber der vielen Bemuͤhungen dieſes rechtſchaffenen Herrn ohnerachtet ziemlichen Wider- ſtand antraf, und daher den Einfal der Ruſſen auf Oeſel als ein goͤttliches Strafgericht herleitet. Die armen Leute waren ſo vol Angſt, daß die Bauren beim Anzuge der Ruſſen in die pihaiſche Kirche fluͤchteten, und auf den Kirchthurm ſtiegen. Als aber die Ruſſen die mit Stroh gedeckte Kirche in Brand ſteckten, warfen die Muͤtter aus Verzweifelung ihre im Rauch winſelnden Kin- der ſelbſt vom Thurm herunter ins Feuer, damit der Feind ihr Geſchrey nicht hoͤren ſolte. **) Dieſer gelehrte Man war beim Czaar ſehr wohl angeſchrieben, und muſte die vortrefliche czaariſche
Bibliothek in Ordnung bringen, welche ehmals aus Rom gekommen, und wol uͤber 100 Jahr hinter drey Gewoͤlbern verſteckt gelegen. Er war ſeiner Gemeine freiwillig in die Gefangen- ſchaft gefolget, und hatte ſie bald zu Pferde bald zu Fus von einer Stadt zur andern aufgeſucht, ſie getroͤſtet, und uͤberal Schulmeiſter verordnet, die ihnen die Poſtille vorleſen muſten. Nach Neuſtaͤdts Rechnung iſt dieſer Wettermann erſt 1565 aus Doͤrpt den damals weggefuͤhrten Buͤrgern nachgezogen, und hat wol Brakel in der Beſtimmung ſeines Todesjahrs geirret. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0276" n="258"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Leben und Thaten der lieflaͤndiſchen Ordensmeiſter,</hi> </fw><lb/> <note place="left">1560</note> <p>Als <hi rendition="#fr">Vellin</hi> am 22ſten Auguſt uͤbergegangen, theilte ſich das <hi rendition="#fr">rußiſche</hi> Heer in<lb/> 3 Haufen. 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Leben und Thaten der lieflaͤndiſchen Ordensmeiſter,
Als Vellin am 22ſten Auguſt uͤbergegangen, theilte ſich das rußiſche Heer in
3 Haufen. Die kleinſte Partey ruͤckte im September vor Weiſſenſtein, wel-
ches der obgemeldte Caſper von Oldenbockum tapfer vertheidigte, und beſchos
das Schlos 5 Wochen. Die umliegende Gegend wurde verheeret, dem Schloſ-
ſe aber war nicht beizukommen. Ein andrer Haufen gieng; nach Wenden und
Wolmar. Die Buͤrgerſchaft von Wolmar that mit 3 Rotten Schuͤtzen einen
Ausfal, um das weggetriebene Vieh zu erbeuten, wagte ſich aber ſo unvorſichtig,
daß ſie voͤllig umringet und gefangen genommen, auch ſo gleich nach Moskau
geſchickt wurde. Die dritte Abtheilung ſchlug ſich nach der Wyk, wohin die
Harriſchen ihr Vieh und ihre Koſtbarkeiten geſchaffet, weil man dieſes Land,
des Herzogs Magnus wegen fuͤr ſicher hielt, allein weil Magnus mit auf dem
pernauiſchen Landtage geweſen, und ſich bey den Ruſſen verdaͤchtig gemacht,
ſo wurden auch aus dieſem Kreiſe die Einwohner nach Moskau gebracht. Selbſt
Magnus hielt ſich in Hapſal nicht ſicher, ſondern ſtieg ins Boot und fuhr
nach
h)
h) koͤnnen. Brakel *), welcher das Uugluͤck in Liefland klaͤglich genug vorſtellet, und
die Ruſſen ziemlich grauſam beſchreibet, giebt deutlich zu verſtehen, daß das Schre-
cken und die Furcht groͤſſer geweſen, als die Erfahrung es gerechtfertiget. Er ſelbſt
wurde als evangeliſcher Prediger zu Doͤrpt auf luͤgenhaftes Angeben 1559 in Stri-
cken und eiſernen Fusbanden nach Moskau gebracht, genos aber auch in Plescow
viele Liebe, wo die alten Deutſchen Kaufleute ihm Reiſegeld gaben. Jn Nogar-
den ſchenkte ihm der Stathalter die Freiheit von Banden, und in Moskau ſelbſt
wurde ihm viel Gutes erwieſen. Er ruͤhmet an den Ruſſen, daß ſie ihm auch in den
Banden ſein prieſterlich Amt frey treiben laſſen, da doch die Prediger augſpurgiſcher
Confeßion in Doͤrpt viel von den Catholiken deswegen leiden muͤſſen. Einigen Ge-
fangenen gab der Czaar Freiheit zuruͤck zu kehren, worunter der ehrliche Mag. Joh.
Wettermann **), Paſtor der Kirche zu Unſrer lieben Frauen in Doͤrpt war, und
daſelbſt 1564 ſtarb. Was die Geſchichtſchreiber, einheimiſche und fremde, von den
unmenſchlichen Grauſamkeiten einer damals ungeſitteten Nation melden, darf nicht
ſchlechterdings geleugnet werden. Doch lies es die Parteilichkeit nicht anders zu, als
aus einer Geſchichte 100 Hiſtorien mit eben ſo viel angehengten poͤbelhaften Erzehlun-
gen zu machen, und von einem einzelnen Fal auf alles zu ſchlieſſen. Wie ſchoͤn mach-
ten es die kaiſerlichen Soldaten in dem 30 jaͤhrigen Kriege, die Franzoſen und Spa-
nier in der Pfalz, die man doch fuͤr chriſtliche und geſittete Voͤlker hielt? Die ganz
neue Hiſtorie unſrer Zeiten hat ja noch klaͤglichere Vorfaͤlle aufzuweiſen. Es iſt aller-
dings wahr, daß die mehreſten Leute von den Feindſeligkeiten der Ruſſen graͤslichere
Vorſtellungen gehabt, als ſie haͤtten haben ſollen. Was machen die Geſchichtſchreiber
von der Tragoͤdie zu Wenden 1577 nicht fuͤr ein Aufheben, da viel 100 Perſonen aus
Furcht vor dem Feinde ſich auf dem Schloſſe zu Wenden in die Luft ſprengten? Sie
ſind wol gar auf die damaligen Prediger in Riga ungehalten, wenn ſie wieder dieſen
heroiſchen Selbſtmord geeifert. Jn den Umſtaͤnden worin ſich der Czaar befand, haͤt-
te ſich ja wol die groͤſte Sanftmuth in Zorn verwandeln muͤſſen, da er die Vornehm-
ſten Jnnehaber eines belagerten und faſt eingeſchoſſenen Schloſſes zu ſeinen Fuͤſſen lie-
gen ſahe, und ihnen das Leben ſchenkte, mitten unter ſeiner Begnadigung aber die
Kugeln um ſein Haupt ſauſen und brauſen hoͤrete. Siehe Henning S. 136.
*) Timan Brakel, ein Lieflaͤnder, ſchrieb als augſpurgiſcher Confeßion Prediger zu Antdorf 1579
in 8. Rhythmos de excidio Liuoniae. Nachdem er aus Rußland wieder in Freiheit gekommen,
berief ihn der daͤniſche Landshauptman Claus von Ungern nach Oeſel zum Paſtor auf Piha,
wo er aber der vielen Bemuͤhungen dieſes rechtſchaffenen Herrn ohnerachtet ziemlichen Wider-
ſtand antraf, und daher den Einfal der Ruſſen auf Oeſel als ein goͤttliches Strafgericht herleitet.
Die armen Leute waren ſo vol Angſt, daß die Bauren beim Anzuge der Ruſſen in die pihaiſche
Kirche fluͤchteten, und auf den Kirchthurm ſtiegen. Als aber die Ruſſen die mit Stroh gedeckte
Kirche in Brand ſteckten, warfen die Muͤtter aus Verzweifelung ihre im Rauch winſelnden Kin-
der ſelbſt vom Thurm herunter ins Feuer, damit der Feind ihr Geſchrey nicht hoͤren ſolte.
**) Dieſer gelehrte Man war beim Czaar ſehr wohl angeſchrieben, und muſte die vortrefliche czaariſche
Bibliothek in Ordnung bringen, welche ehmals aus Rom gekommen, und wol uͤber 100 Jahr
hinter drey Gewoͤlbern verſteckt gelegen. Er war ſeiner Gemeine freiwillig in die Gefangen-
ſchaft gefolget, und hatte ſie bald zu Pferde bald zu Fus von einer Stadt zur andern aufgeſucht,
ſie getroͤſtet, und uͤberal Schulmeiſter verordnet, die ihnen die Poſtille vorleſen muſten. Nach
Neuſtaͤdts Rechnung iſt dieſer Wettermann erſt 1565 aus Doͤrpt den damals weggefuͤhrten
Buͤrgern nachgezogen, und hat wol Brakel in der Beſtimmung ſeines Todesjahrs geirret.
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