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[Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Erster Theil. Halle, 1747.

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von 1206 bis 1207.
sten aber niedergemacht. Und da nach geendigter epistolischen Festlection*) das1206
Evangelium abgelesen ward: sprengten die Litthauer mit ihren schnellen Pfer-
den hin und her um die Kirche herum, kamen doch nicht hinein, weil GOtt seine
Kirche bewahrte, sondern ranten nach dem Pfarrhause, nahmen Pferde und Vieh
mit sich, und warfen Kleider, Eßwaaren, und alles was sie fanden, auf ihre
Wagen. Und da sie über dem Plündern auf der Pfarre so lange sich verweilten,
verrichtete der Priester unterdessen in der Kirche die hohe Messe des hochwürdigen
Nachtmahls des Leibes und Blutes Christi, hatte auch kein Bedenken sich selbst
dem HErrn zum Opfer hinzugeben, und empfahl sich ihm. Der Priester Dietrich
stand ihnen treulich bey, wartete mit auf, der Knecht hielt die Kirchthüre vest f),
und beyde stärkten ihn, daß er aus Furcht vor den Heiden das hohe Amt nicht ste-
hen ließ. Wie nun durch GOttes Gnade die Messe vorbey war, nahmen sie die
Bekleidung des Altars ab, packten alle Meßgewandte zusammen, legten sie in die
Sakristey in einen Winkel, setzten sich neben einander und verbargen sich in diesen
Winkel mit. Kaum daß sie damit fertig waren, siehe! so kam einer von den Fein-
den in die Kirche, lief allenthalben herum, und fast bis in die Sakristey; wie er
aber den Altar blos und ledig sahe, auch nichts antraf, was ihm anstand, sprach
er mit aufgespertem Rachen: Ba! (ein Sprüchwort, so bey dieser barbarischen
Nation üblich ist,) und ging nach seinen Kammeraden. Nachdem nun die Lit-
thauer
alles weggenommen, was sie gefunden, gingen sie ihren Weg, und kaum
waren sie aus dem Pfarrhause ausgezogen, siehe! so kam ein anderer und noch
stärkerer Haufen als die vorigen, und wie sie das Haus geplündert funden, eileten
sie hinter den andern her, von denen einer in die Kirche kam, ohne von seinem Pfer-
de abzusteigen; weil er aber nichts zu rauben antraf, und die Versteckten im Win-
kel nicht zu Gesichte bekam, machte er sich wieder in aller Eil fort. Und da auch der
dritte Trupp der Litthauer ankam, so sas einer von ihnen auf seinem Wagen,
und fuhr durch die Kirche durch, sahe aber auch die Priester nicht. Diese dankten
also GOtt, daß er sie gesund und frisch in dem Gesicht der Feinde erhalten. Sie
gingen nach deren Wegzuge gegen Abend aus der Kirche, flüchteten nach dem Bu-
sche, assen darinne drey Tage lang das truckne Brod und langten den vierten Tag
in Riga an. Die Litthauer aber plünderten die ganze Provinz rund herum,
und versamleten sich des Nachts in dem Dorfe des Anno g), brachen mit frühem
Morgen wieder auf, und führten Weiber, Jungfrauen, kleine Kinder und eine
grosse Beute an Vieh aus dem Lande. Aber eben in der Christnacht schickten die
Liven Boten an den Bischof, mit Vermelden, der Litthauer Heer sey einge-
brochen, und gleich darauf kam eine Nachricht nach der andern; und erzähl-
ten den Mord und die Gefangenschaft der Menschen, die Verwüstung der Kirchen,
und allen Schaden, den die Heiden der neuen Gemeine zugefüget hatten.
Auf diese Nachricht ließ der Bischof die Pilger, die Ordensbrüder, die Kauf-
leute und alle die Seinigen vor sich kommen, und that an sie die Vorstellung, daß sie
sich zur Vergebung ihrer Sünden als eine Mauer um das Haus des HErrn stel-
len und die Kirche von ihren Feinden willig erretten solten. Diese waren so gleich
gehorsam, machten sich zur Schlacht fertig, und sandten an alle Liven und
Letten mit Bedrohen und Vermelden: Wer nicht ausziehen und der christlichen
Armee mit folgen würde, solle drey Mark Strafe geben. Also kam allen eine
Furcht an und machten sich auf, den Rigischen bey der Düne entgegen zu ge-
hen. Nach ihrem Aufbruch kamen sie in Lenewarden zusammen, und pasten
unterhalb der Stadt in aller Stille auf den Rückmarsch der Litthauer. Man
schickte auch Kundschafter aus, ihren Weg zu beobachten. Diesen begegneten sie,
als sie mit allen Gefangenen und Raube bey Lenewarden des Nachts auf dem Eise
über die Düne gingen. Jhr Heerführer aber rückte mit seinen Begleitern etwas
näher hinauf ans Schloß, und wie er den Aeltesten des Schlosses aufgefordert,

fragte
*) Sequentia ist jede Lection, die vor dem Evangelio vorhergehet, nach dem alten Meßbuche. Nach dem
neuen ist es ein in Knittelversen abgefaster Lobgesang.
Q

von 1206 bis 1207.
ſten aber niedergemacht. Und da nach geendigter epiſtoliſchen Feſtlection*) das1206
Evangelium abgeleſen ward: ſprengten die Litthauer mit ihren ſchnellen Pfer-
den hin und her um die Kirche herum, kamen doch nicht hinein, weil GOtt ſeine
Kirche bewahrte, ſondern ranten nach dem Pfarrhauſe, nahmen Pferde und Vieh
mit ſich, und warfen Kleider, Eßwaaren, und alles was ſie fanden, auf ihre
Wagen. Und da ſie uͤber dem Pluͤndern auf der Pfarre ſo lange ſich verweilten,
verrichtete der Prieſter unterdeſſen in der Kirche die hohe Meſſe des hochwuͤrdigen
Nachtmahls des Leibes und Blutes Chriſti, hatte auch kein Bedenken ſich ſelbſt
dem HErrn zum Opfer hinzugeben, und empfahl ſich ihm. Der Prieſter Dietrich
ſtand ihnen treulich bey, wartete mit auf, der Knecht hielt die Kirchthuͤre veſt f),
und beyde ſtaͤrkten ihn, daß er aus Furcht vor den Heiden das hohe Amt nicht ſte-
hen ließ. Wie nun durch GOttes Gnade die Meſſe vorbey war, nahmen ſie die
Bekleidung des Altars ab, packten alle Meßgewandte zuſammen, legten ſie in die
Sakriſtey in einen Winkel, ſetzten ſich neben einander und verbargen ſich in dieſen
Winkel mit. Kaum daß ſie damit fertig waren, ſiehe! ſo kam einer von den Fein-
den in die Kirche, lief allenthalben herum, und faſt bis in die Sakriſtey; wie er
aber den Altar blos und ledig ſahe, auch nichts antraf, was ihm anſtand, ſprach
er mit aufgeſpertem Rachen: Ba! (ein Spruͤchwort, ſo bey dieſer barbariſchen
Nation uͤblich iſt,) und ging nach ſeinen Kammeraden. Nachdem nun die Lit-
thauer
alles weggenommen, was ſie gefunden, gingen ſie ihren Weg, und kaum
waren ſie aus dem Pfarrhauſe ausgezogen, ſiehe! ſo kam ein anderer und noch
ſtaͤrkerer Haufen als die vorigen, und wie ſie das Haus gepluͤndert funden, eileten
ſie hinter den andern her, von denen einer in die Kirche kam, ohne von ſeinem Pfer-
de abzuſteigen; weil er aber nichts zu rauben antraf, und die Verſteckten im Win-
kel nicht zu Geſichte bekam, machte er ſich wieder in aller Eil fort. Und da auch der
dritte Trupp der Litthauer ankam, ſo ſas einer von ihnen auf ſeinem Wagen,
und fuhr durch die Kirche durch, ſahe aber auch die Prieſter nicht. Dieſe dankten
alſo GOtt, daß er ſie geſund und friſch in dem Geſicht der Feinde erhalten. Sie
gingen nach deren Wegzuge gegen Abend aus der Kirche, fluͤchteten nach dem Bu-
ſche, aſſen darinne drey Tage lang das truckne Brod und langten den vierten Tag
in Riga an. Die Litthauer aber pluͤnderten die ganze Provinz rund herum,
und verſamleten ſich des Nachts in dem Dorfe des Anno g), brachen mit fruͤhem
Morgen wieder auf, und fuͤhrten Weiber, Jungfrauen, kleine Kinder und eine
groſſe Beute an Vieh aus dem Lande. Aber eben in der Chriſtnacht ſchickten die
Liven Boten an den Biſchof, mit Vermelden, der Litthauer Heer ſey einge-
brochen, und gleich darauf kam eine Nachricht nach der andern; und erzaͤhl-
ten den Mord und die Gefangenſchaft der Menſchen, die Verwuͤſtung der Kirchen,
und allen Schaden, den die Heiden der neuen Gemeine zugefuͤget hatten.
Auf dieſe Nachricht ließ der Biſchof die Pilger, die Ordensbruͤder, die Kauf-
leute und alle die Seinigen vor ſich kommen, und that an ſie die Vorſtellung, daß ſie
ſich zur Vergebung ihrer Suͤnden als eine Mauer um das Haus des HErrn ſtel-
len und die Kirche von ihren Feinden willig erretten ſolten. Dieſe waren ſo gleich
gehorſam, machten ſich zur Schlacht fertig, und ſandten an alle Liven und
Letten mit Bedrohen und Vermelden: Wer nicht ausziehen und der chriſtlichen
Armee mit folgen wuͤrde, ſolle drey Mark Strafe geben. Alſo kam allen eine
Furcht an und machten ſich auf, den Rigiſchen bey der Duͤne entgegen zu ge-
hen. Nach ihrem Aufbruch kamen ſie in Lenewarden zuſammen, und paſten
unterhalb der Stadt in aller Stille auf den Ruͤckmarſch der Litthauer. Man
ſchickte auch Kundſchafter aus, ihren Weg zu beobachten. Dieſen begegneten ſie,
als ſie mit allen Gefangenen und Raube bey Lenewarden des Nachts auf dem Eiſe
uͤber die Duͤne gingen. Jhr Heerfuͤhrer aber ruͤckte mit ſeinen Begleitern etwas
naͤher hinauf ans Schloß, und wie er den Aelteſten des Schloſſes aufgefordert,

fragte
*) Sequentia iſt jede Lection, die vor dem Evangelio vorhergehet, nach dem alten Meßbuche. Nach dem
neuen iſt es ein in Knittelverſen abgefaſter Lobgeſang.
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[61/0093] von 1206 bis 1207. ſten aber niedergemacht. Und da nach geendigter epiſtoliſchen Feſtlection *) das Evangelium abgeleſen ward: ſprengten die Litthauer mit ihren ſchnellen Pfer- den hin und her um die Kirche herum, kamen doch nicht hinein, weil GOtt ſeine Kirche bewahrte, ſondern ranten nach dem Pfarrhauſe, nahmen Pferde und Vieh mit ſich, und warfen Kleider, Eßwaaren, und alles was ſie fanden, auf ihre Wagen. Und da ſie uͤber dem Pluͤndern auf der Pfarre ſo lange ſich verweilten, verrichtete der Prieſter unterdeſſen in der Kirche die hohe Meſſe des hochwuͤrdigen Nachtmahls des Leibes und Blutes Chriſti, hatte auch kein Bedenken ſich ſelbſt dem HErrn zum Opfer hinzugeben, und empfahl ſich ihm. Der Prieſter Dietrich ſtand ihnen treulich bey, wartete mit auf, der Knecht hielt die Kirchthuͤre veſt f⁾ , und beyde ſtaͤrkten ihn, daß er aus Furcht vor den Heiden das hohe Amt nicht ſte- hen ließ. Wie nun durch GOttes Gnade die Meſſe vorbey war, nahmen ſie die Bekleidung des Altars ab, packten alle Meßgewandte zuſammen, legten ſie in die Sakriſtey in einen Winkel, ſetzten ſich neben einander und verbargen ſich in dieſen Winkel mit. Kaum daß ſie damit fertig waren, ſiehe! ſo kam einer von den Fein- den in die Kirche, lief allenthalben herum, und faſt bis in die Sakriſtey; wie er aber den Altar blos und ledig ſahe, auch nichts antraf, was ihm anſtand, ſprach er mit aufgeſpertem Rachen: Ba! (ein Spruͤchwort, ſo bey dieſer barbariſchen Nation uͤblich iſt,) und ging nach ſeinen Kammeraden. Nachdem nun die Lit- thauer alles weggenommen, was ſie gefunden, gingen ſie ihren Weg, und kaum waren ſie aus dem Pfarrhauſe ausgezogen, ſiehe! ſo kam ein anderer und noch ſtaͤrkerer Haufen als die vorigen, und wie ſie das Haus gepluͤndert funden, eileten ſie hinter den andern her, von denen einer in die Kirche kam, ohne von ſeinem Pfer- de abzuſteigen; weil er aber nichts zu rauben antraf, und die Verſteckten im Win- kel nicht zu Geſichte bekam, machte er ſich wieder in aller Eil fort. Und da auch der dritte Trupp der Litthauer ankam, ſo ſas einer von ihnen auf ſeinem Wagen, und fuhr durch die Kirche durch, ſahe aber auch die Prieſter nicht. Dieſe dankten alſo GOtt, daß er ſie geſund und friſch in dem Geſicht der Feinde erhalten. Sie gingen nach deren Wegzuge gegen Abend aus der Kirche, fluͤchteten nach dem Bu- ſche, aſſen darinne drey Tage lang das truckne Brod und langten den vierten Tag in Riga an. Die Litthauer aber pluͤnderten die ganze Provinz rund herum, und verſamleten ſich des Nachts in dem Dorfe des Anno g⁾ , brachen mit fruͤhem Morgen wieder auf, und fuͤhrten Weiber, Jungfrauen, kleine Kinder und eine groſſe Beute an Vieh aus dem Lande. Aber eben in der Chriſtnacht ſchickten die Liven Boten an den Biſchof, mit Vermelden, der Litthauer Heer ſey einge- brochen, und gleich darauf kam eine Nachricht nach der andern; und erzaͤhl- ten den Mord und die Gefangenſchaft der Menſchen, die Verwuͤſtung der Kirchen, und allen Schaden, den die Heiden der neuen Gemeine zugefuͤget hatten. Auf dieſe Nachricht ließ der Biſchof die Pilger, die Ordensbruͤder, die Kauf- leute und alle die Seinigen vor ſich kommen, und that an ſie die Vorſtellung, daß ſie ſich zur Vergebung ihrer Suͤnden als eine Mauer um das Haus des HErrn ſtel- len und die Kirche von ihren Feinden willig erretten ſolten. Dieſe waren ſo gleich gehorſam, machten ſich zur Schlacht fertig, und ſandten an alle Liven und Letten mit Bedrohen und Vermelden: Wer nicht ausziehen und der chriſtlichen Armee mit folgen wuͤrde, ſolle drey Mark Strafe geben. Alſo kam allen eine Furcht an und machten ſich auf, den Rigiſchen bey der Duͤne entgegen zu ge- hen. Nach ihrem Aufbruch kamen ſie in Lenewarden zuſammen, und paſten unterhalb der Stadt in aller Stille auf den Ruͤckmarſch der Litthauer. Man ſchickte auch Kundſchafter aus, ihren Weg zu beobachten. Dieſen begegneten ſie, als ſie mit allen Gefangenen und Raube bey Lenewarden des Nachts auf dem Eiſe uͤber die Duͤne gingen. Jhr Heerfuͤhrer aber ruͤckte mit ſeinen Begleitern etwas naͤher hinauf ans Schloß, und wie er den Aelteſten des Schloſſes aufgefordert, fragte 1206 *) Sequentia iſt jede Lection, die vor dem Evangelio vorhergehet, nach dem alten Meßbuche. Nach dem neuen iſt es ein in Knittelverſen abgefaſter Lobgeſang. Q

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Zitationshilfe: [Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Erster Theil. Halle, 1747, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lettus_chronik01_1747/93>, abgerufen am 23.11.2024.