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[Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Erster Theil. Halle, 1747.

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von 1223 bis 1224.
stürmung des Schlosses, beschädigten viele auf der Spitze des Schlosses mit Pfei-1223
len aus ihren Ballisten, andere aber tödteten sie mit Steinwerfen aus ihren Ma-
schinen; sie schmissen auch mit ihren Patherellen glühend Eisen und Feuertöpfe ins
Schloß. Sie jagten denen im Schlosse noch mehr Schrecken ein, indem etliche das
Kriegsgeräthe, das man Sturm-Jgel und Sturm- Schweine nennet, bereiteten;
andere Holzhaufen herbey schaften, noch andere Feure anmachten; und auf diese
Art stritten sie viele Tage. Die Belagerten zimmerten gleichfals Maschinen und
Patherellen gegen die Maschinen der Christen, und stelten ihre Bogenschützen und
Steinschleuderer ihren Pfeilen entgegen. Sie feyerten dabey nicht, Tag und Nacht
zu graben, daher kam der Thurm dem Schlosse immer näher. Man ließ den Mü-
den keine Zeit auszuruhen. Des Tages fochten sie, des Nachts musicirten sie und
schrien. Die Liven und Letten klapperten mit den Schwertern auf ihre Schilde
und lermten dabey. Die Deutschen paukten, pfiffen, posaunten und hatten
noch andere Musik. Die Russen brachten alle Nächte mit ihren Jnstrumenten,
Trompeten d) und Geschrey, schlaflos zu. Demnach kamen alle Christen zusam-
men, gingen zu Rathe und beteten brünstig zu GOTT. Sie hatten aber einen
Herzog Friedrich und Herzog Friedehelm e), desgleichen einen Advocaten der
Pilger, einen vornehmen und reichen Mann bey sich, der sagte: Jhr müst das
Schloß mit Gewalt ersteigen, es durch Erklettern einnehmen, und an den
Bösewichtern andern zum Schreck ein Exempel statuiren. Denn sie haben
bisher in allen durch die Liefländer eroberten Schlösser Leben und Freyheit
immer erhalten, und daher haben die andern keine Furcht mehr. Wir wol-
lens nun so halten; wer von unsern Rittern das Schloß zuerst ersteigen
und hineindringen wird, dem wollen wir die gröste Ehre erweisen, und
ihm die besten Pferde und den obersten Gefangenen im Schlosse verehren,
nur den untreuen König nicht, den wir auf dem höchsten Baumast über
alle die andern weg henken wollen.
Der Rath gefiel allen wohl. Sie thaten
dem HErrn und der heiligen Jungfrau ihr Gelübde. Gleich mit frühem Morgen,
nach vorher gehaltener Messe ging der Sturm an. Man trug viel Holz zusam-
men; alle Mühe aber war vergeblich, weil die Zeit der Rache GOttes noch nicht
gekommen war. Um neun Uhr nun machten die verdamten Esthen im Schlosse
ein starkes Feuer; öfneten ein grosses Loch in der Mauer aus welchem sie Feuer-
räder heraus, und auf den Thurm zu warfen, auch grosse Haufen Holz hinter
her schmissen. Die tapferen Geharnischten unter den Christen aber störten das
Feuer auseinander und löschten es, schlugen die Räder in Stücken, dämpften die
Gewalt der Glut und vertheidigten ihren Thurm mit starker Faust. Jnzwischen
schlepten andere von der Armee Holz herbey, und steckten die Brücke in Brand.
wowider alle Russen ans Thor zur Gegenwehr liefen.

d) Der Verfasser scheinet die Rußischen Trompeten von ihrem Schal Tarantas zu nennen.
Siehe den du Cange unter dem Worte Taratantara.
e) Wer sind denn diese Herzoge Friedrich und Friedehelm? Diese Namen sind gewiß zu
damaliger Zeit unter den Herzogen von Niedersachsen und den Nordischen Reichen
nicht zu finden. Jch glaube daher, das Wort Herzog sey hier kein Ehrentitel *), son-
dern das Unterscheidungswort einer Familie, die den Zunamen Herzoge geführet. Jch
glaube auch nicht, daß Friedehelm von Adel gewesen, als nur in einem nach der
Grammatik üblichen Verstande, da ein vir nobilis so viel heist, als ein vornehmer
Mann. Denn schon oben in den Geschichten Meinhards not. p) hatten wir einen
Bürger von Magdeburg, der ebenfals (nobilis) vornehm und reich genant wird.
Solte wol Friedehelm Hertoge in solchen Ehren gestanden, weil er der Armee der
Kreuzfarer Proviant, Geld und Gewehr vielleicht zugeführet, und das Amt eines
Kriegescommissarius verwaltet haben? Denn solche Herren sind gemeiniglich angesehen
*) Die geschriebenen Chronikbücher von Liefland, welche aus diesem Werk einen kurzen Auszug liefern,
machen diese beyden Männer mit Gewalt zu Herzogen, und hingegen den Herzog Karl von Oster-
gothland
nur zum königlichen Hauptmann.
C c c 2

von 1223 bis 1224.
ſtuͤrmung des Schloſſes, beſchaͤdigten viele auf der Spitze des Schloſſes mit Pfei-1223
len aus ihren Balliſten, andere aber toͤdteten ſie mit Steinwerfen aus ihren Ma-
ſchinen; ſie ſchmiſſen auch mit ihren Patherellen gluͤhend Eiſen und Feuertoͤpfe ins
Schloß. Sie jagten denen im Schloſſe noch mehr Schrecken ein, indem etliche das
Kriegsgeraͤthe, das man Sturm-Jgel und Sturm- Schweine nennet, bereiteten;
andere Holzhaufen herbey ſchaften, noch andere Feure anmachten; und auf dieſe
Art ſtritten ſie viele Tage. Die Belagerten zimmerten gleichfals Maſchinen und
Patherellen gegen die Maſchinen der Chriſten, und ſtelten ihre Bogenſchuͤtzen und
Steinſchleuderer ihren Pfeilen entgegen. Sie feyerten dabey nicht, Tag und Nacht
zu graben, daher kam der Thurm dem Schloſſe immer naͤher. Man ließ den Muͤ-
den keine Zeit auszuruhen. Des Tages fochten ſie, des Nachts muſicirten ſie und
ſchrien. Die Liven und Letten klapperten mit den Schwertern auf ihre Schilde
und lermten dabey. Die Deutſchen paukten, pfiffen, poſaunten und hatten
noch andere Muſik. Die Ruſſen brachten alle Naͤchte mit ihren Jnſtrumenten,
Trompeten d) und Geſchrey, ſchlaflos zu. Demnach kamen alle Chriſten zuſam-
men, gingen zu Rathe und beteten bruͤnſtig zu GOTT. Sie hatten aber einen
Herzog Friedrich und Herzog Friedehelm e), desgleichen einen Advocaten der
Pilger, einen vornehmen und reichen Mann bey ſich, der ſagte: Jhr muͤſt das
Schloß mit Gewalt erſteigen, es durch Erklettern einnehmen, und an den
Boͤſewichtern andern zum Schreck ein Exempel ſtatuiren. Denn ſie haben
bisher in allen durch die Lieflaͤnder eroberten Schloͤſſer Leben und Freyheit
immer erhalten, und daher haben die andern keine Furcht mehr. Wir wol-
lens nun ſo halten; wer von unſern Rittern das Schloß zuerſt erſteigen
und hineindringen wird, dem wollen wir die groͤſte Ehre erweiſen, und
ihm die beſten Pferde und den oberſten Gefangenen im Schloſſe verehren,
nur den untreuen Koͤnig nicht, den wir auf dem hoͤchſten Baumaſt uͤber
alle die andern weg henken wollen.
Der Rath gefiel allen wohl. Sie thaten
dem HErrn und der heiligen Jungfrau ihr Geluͤbde. Gleich mit fruͤhem Morgen,
nach vorher gehaltener Meſſe ging der Sturm an. Man trug viel Holz zuſam-
men; alle Muͤhe aber war vergeblich, weil die Zeit der Rache GOttes noch nicht
gekommen war. Um neun Uhr nun machten die verdamten Eſthen im Schloſſe
ein ſtarkes Feuer; oͤfneten ein groſſes Loch in der Mauer aus welchem ſie Feuer-
raͤder heraus, und auf den Thurm zu warfen, auch groſſe Haufen Holz hinter
her ſchmiſſen. Die tapferen Geharniſchten unter den Chriſten aber ſtoͤrten das
Feuer auseinander und loͤſchten es, ſchlugen die Raͤder in Stuͤcken, daͤmpften die
Gewalt der Glut und vertheidigten ihren Thurm mit ſtarker Fauſt. Jnzwiſchen
ſchlepten andere von der Armee Holz herbey, und ſteckten die Bruͤcke in Brand.
wowider alle Ruſſen ans Thor zur Gegenwehr liefen.

d) Der Verfaſſer ſcheinet die Rußiſchen Trompeten von ihrem Schal Tarantas zu nennen.
Siehe den du Cange unter dem Worte Taratantara.
e) Wer ſind denn dieſe Herzoge Friedrich und Friedehelm? Dieſe Namen ſind gewiß zu
damaliger Zeit unter den Herzogen von Niederſachſen und den Nordiſchen Reichen
nicht zu finden. Jch glaube daher, das Wort Herzog ſey hier kein Ehrentitel *), ſon-
dern das Unterſcheidungswort einer Familie, die den Zunamen Herzoge gefuͤhret. Jch
glaube auch nicht, daß Friedehelm von Adel geweſen, als nur in einem nach der
Grammatik uͤblichen Verſtande, da ein vir nobilis ſo viel heiſt, als ein vornehmer
Mann. Denn ſchon oben in den Geſchichten Meinhards not. p) hatten wir einen
Buͤrger von Magdeburg, der ebenfals (nobilis) vornehm und reich genant wird.
Solte wol Friedehelm Hertoge in ſolchen Ehren geſtanden, weil er der Armee der
Kreuzfarer Proviant, Geld und Gewehr vielleicht zugefuͤhret, und das Amt eines
Kriegescommiſſarius verwaltet haben? Denn ſolche Herren ſind gemeiniglich angeſehen
*) Die geſchriebenen Chronikbuͤcher von Liefland, welche aus dieſem Werk einen kurzen Auszug liefern,
machen dieſe beyden Maͤnner mit Gewalt zu Herzogen, und hingegen den Herzog Karl von Oſter-
gothland
nur zum koͤniglichen Hauptmann.
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[195/0227] von 1223 bis 1224. ſtuͤrmung des Schloſſes, beſchaͤdigten viele auf der Spitze des Schloſſes mit Pfei- len aus ihren Balliſten, andere aber toͤdteten ſie mit Steinwerfen aus ihren Ma- ſchinen; ſie ſchmiſſen auch mit ihren Patherellen gluͤhend Eiſen und Feuertoͤpfe ins Schloß. Sie jagten denen im Schloſſe noch mehr Schrecken ein, indem etliche das Kriegsgeraͤthe, das man Sturm-Jgel und Sturm- Schweine nennet, bereiteten; andere Holzhaufen herbey ſchaften, noch andere Feure anmachten; und auf dieſe Art ſtritten ſie viele Tage. Die Belagerten zimmerten gleichfals Maſchinen und Patherellen gegen die Maſchinen der Chriſten, und ſtelten ihre Bogenſchuͤtzen und Steinſchleuderer ihren Pfeilen entgegen. Sie feyerten dabey nicht, Tag und Nacht zu graben, daher kam der Thurm dem Schloſſe immer naͤher. Man ließ den Muͤ- den keine Zeit auszuruhen. Des Tages fochten ſie, des Nachts muſicirten ſie und ſchrien. Die Liven und Letten klapperten mit den Schwertern auf ihre Schilde und lermten dabey. Die Deutſchen paukten, pfiffen, poſaunten und hatten noch andere Muſik. Die Ruſſen brachten alle Naͤchte mit ihren Jnſtrumenten, Trompeten d⁾ und Geſchrey, ſchlaflos zu. Demnach kamen alle Chriſten zuſam- men, gingen zu Rathe und beteten bruͤnſtig zu GOTT. Sie hatten aber einen Herzog Friedrich und Herzog Friedehelm e⁾ , desgleichen einen Advocaten der Pilger, einen vornehmen und reichen Mann bey ſich, der ſagte: Jhr muͤſt das Schloß mit Gewalt erſteigen, es durch Erklettern einnehmen, und an den Boͤſewichtern andern zum Schreck ein Exempel ſtatuiren. Denn ſie haben bisher in allen durch die Lieflaͤnder eroberten Schloͤſſer Leben und Freyheit immer erhalten, und daher haben die andern keine Furcht mehr. Wir wol- lens nun ſo halten; wer von unſern Rittern das Schloß zuerſt erſteigen und hineindringen wird, dem wollen wir die groͤſte Ehre erweiſen, und ihm die beſten Pferde und den oberſten Gefangenen im Schloſſe verehren, nur den untreuen Koͤnig nicht, den wir auf dem hoͤchſten Baumaſt uͤber alle die andern weg henken wollen. Der Rath gefiel allen wohl. Sie thaten dem HErrn und der heiligen Jungfrau ihr Geluͤbde. Gleich mit fruͤhem Morgen, nach vorher gehaltener Meſſe ging der Sturm an. Man trug viel Holz zuſam- men; alle Muͤhe aber war vergeblich, weil die Zeit der Rache GOttes noch nicht gekommen war. Um neun Uhr nun machten die verdamten Eſthen im Schloſſe ein ſtarkes Feuer; oͤfneten ein groſſes Loch in der Mauer aus welchem ſie Feuer- raͤder heraus, und auf den Thurm zu warfen, auch groſſe Haufen Holz hinter her ſchmiſſen. Die tapferen Geharniſchten unter den Chriſten aber ſtoͤrten das Feuer auseinander und loͤſchten es, ſchlugen die Raͤder in Stuͤcken, daͤmpften die Gewalt der Glut und vertheidigten ihren Thurm mit ſtarker Fauſt. Jnzwiſchen ſchlepten andere von der Armee Holz herbey, und ſteckten die Bruͤcke in Brand. wowider alle Ruſſen ans Thor zur Gegenwehr liefen. 1223 d⁾ Der Verfaſſer ſcheinet die Rußiſchen Trompeten von ihrem Schal Tarantas zu nennen. Siehe den du Cange unter dem Worte Taratantara. e⁾ Wer ſind denn dieſe Herzoge Friedrich und Friedehelm? Dieſe Namen ſind gewiß zu damaliger Zeit unter den Herzogen von Niederſachſen und den Nordiſchen Reichen nicht zu finden. Jch glaube daher, das Wort Herzog ſey hier kein Ehrentitel *), ſon- dern das Unterſcheidungswort einer Familie, die den Zunamen Herzoge gefuͤhret. Jch glaube auch nicht, daß Friedehelm von Adel geweſen, als nur in einem nach der Grammatik uͤblichen Verſtande, da ein vir nobilis ſo viel heiſt, als ein vornehmer Mann. Denn ſchon oben in den Geſchichten Meinhards not. p) hatten wir einen Buͤrger von Magdeburg, der ebenfals (nobilis) vornehm und reich genant wird. Solte wol Friedehelm Hertoge in ſolchen Ehren geſtanden, weil er der Armee der Kreuzfarer Proviant, Geld und Gewehr vielleicht zugefuͤhret, und das Amt eines Kriegescommiſſarius verwaltet haben? Denn ſolche Herren ſind gemeiniglich angeſehen und *) Die geſchriebenen Chronikbuͤcher von Liefland, welche aus dieſem Werk einen kurzen Auszug liefern, machen dieſe beyden Maͤnner mit Gewalt zu Herzogen, und hingegen den Herzog Karl von Oſter- gothland nur zum koͤniglichen Hauptmann. C c c 2

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Zitationshilfe: [Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Erster Theil. Halle, 1747, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lettus_chronik01_1747/227>, abgerufen am 24.11.2024.