Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Berlin, 1779.
Sie geht; ich folg' ihr, und mein Auge schweift Mit Graus die wankenden Ruinen durch. Nun steht sie wieder; und ich sehe mich An den versunknen Stuffen eines morschen Altars mit ihr. Wie ward mir? als sie da Mit heissen Thränen, mit gerungnen Händen, Zu meinen Füssen stürzte ... Sittah. Gutes Kind! Recha. Und bey der Göttlichen, die da wohl sonst So manch Gebet erhört, so manches Wunder Verrichtet habe, mich beschwor; -- mit Blicken Des wahren Mitleids mich beschwor, mich meiner Doch zu erbarmen! -- Wenigstens, ihr zu Vergeben, wenn sie mir entdecken müsse, Was ihre Kirch' auf mich für Anspruch habe. Sittah. (Unglückliche! -- Es ahndte mir!) Recha. Jch sey Aus christlichem Geblüte; sey getauft; Sey Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater! -- Gott! Gott! Er nicht mein Vater! -- Sittah! Sittah! Sieh mich aufs neu' zu deinen Füssen ... Sittah. Recha! Nicht doch! steh auf! -- Mein Bruder kömmt! steh auf! Sieben-
Sie geht; ich folg’ ihr, und mein Auge ſchweift Mit Graus die wankenden Ruinen durch. Nun ſteht ſie wieder; und ich ſehe mich An den verſunknen Stuffen eines morſchen Altars mit ihr. Wie ward mir? als ſie da Mit heiſſen Thraͤnen, mit gerungnen Haͤnden, Zu meinen Fuͤſſen ſtuͤrzte … Sittah. Gutes Kind! Recha. Und bey der Goͤttlichen, die da wohl ſonſt So manch Gebet erhoͤrt, ſo manches Wunder Verrichtet habe, mich beſchwor; — mit Blicken Des wahren Mitleids mich beſchwor, mich meiner Doch zu erbarmen! — Wenigſtens, ihr zu Vergeben, wenn ſie mir entdecken muͤſſe, Was ihre Kirch’ auf mich fuͤr Anſpruch habe. Sittah. (Ungluͤckliche! — Es ahndte mir!) Recha. Jch ſey Aus chriſtlichem Gebluͤte; ſey getauft; Sey Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater! — Gott! Gott! Er nicht mein Vater! — Sittah! Sittah! Sieh mich aufs neu’ zu deinen Fuͤſſen … Sittah. Recha! Nicht doch! ſteh auf! — Mein Bruder koͤmmt! ſteh auf! Sieben-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#REC"> <p><pb facs="#f0231" n="223"/> Sie geht; ich folg’ ihr, und mein Auge ſchweift<lb/> Mit Graus die wankenden Ruinen durch.<lb/> Nun ſteht ſie wieder; und ich ſehe mich<lb/> An den verſunknen Stuffen eines morſchen<lb/> Altars mit ihr. Wie ward mir? als ſie da<lb/> Mit heiſſen Thraͤnen, mit gerungnen Haͤnden,<lb/> Zu meinen Fuͤſſen ſtuͤrzte …</p> </sp><lb/> <sp who="#SIT"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Sittah.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p> <hi rendition="#et">Gutes Kind!</hi> </p> </sp><lb/> <sp who="#REC"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Recha.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p>Und bey der Goͤttlichen, die da wohl ſonſt<lb/> So manch Gebet erhoͤrt, ſo manches Wunder<lb/> Verrichtet habe, mich beſchwor; — mit Blicken<lb/> Des wahren Mitleids mich beſchwor, mich meiner<lb/> Doch zu erbarmen! — Wenigſtens, ihr zu<lb/> Vergeben, wenn ſie mir entdecken muͤſſe,<lb/> Was ihre Kirch’ auf mich fuͤr Anſpruch habe.</p> </sp><lb/> <sp who="#SIT"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Sittah.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p>(Ungluͤckliche! — Es ahndte mir!)</p> </sp><lb/> <sp who="#REC"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Recha.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p><hi rendition="#et">Jch ſey</hi><lb/> Aus chriſtlichem Gebluͤte; ſey getauft;<lb/> Sey Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater! —<lb/> Gott! Gott! Er nicht mein Vater! — Sittah! Sittah!<lb/> Sieh mich aufs neu’ zu deinen Fuͤſſen …</p> </sp><lb/> <sp who="#SIT"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Sittah.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p><hi rendition="#et">Recha!</hi><lb/> Nicht doch! ſteh auf! — Mein Bruder koͤmmt! ſteh auf!</p> </sp> </div><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">Sieben-</hi> </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [223/0231]
Sie geht; ich folg’ ihr, und mein Auge ſchweift
Mit Graus die wankenden Ruinen durch.
Nun ſteht ſie wieder; und ich ſehe mich
An den verſunknen Stuffen eines morſchen
Altars mit ihr. Wie ward mir? als ſie da
Mit heiſſen Thraͤnen, mit gerungnen Haͤnden,
Zu meinen Fuͤſſen ſtuͤrzte …
Sittah.
Gutes Kind!
Recha.
Und bey der Goͤttlichen, die da wohl ſonſt
So manch Gebet erhoͤrt, ſo manches Wunder
Verrichtet habe, mich beſchwor; — mit Blicken
Des wahren Mitleids mich beſchwor, mich meiner
Doch zu erbarmen! — Wenigſtens, ihr zu
Vergeben, wenn ſie mir entdecken muͤſſe,
Was ihre Kirch’ auf mich fuͤr Anſpruch habe.
Sittah.
(Ungluͤckliche! — Es ahndte mir!)
Recha.
Jch ſey
Aus chriſtlichem Gebluͤte; ſey getauft;
Sey Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater! —
Gott! Gott! Er nicht mein Vater! — Sittah! Sittah!
Sieh mich aufs neu’ zu deinen Fuͤſſen …
Sittah.
Recha!
Nicht doch! ſteh auf! — Mein Bruder koͤmmt! ſteh auf!
Sieben-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |