Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick auf sein vergangenes Leben zu- rück. Ich bin freylich ein Sünder, sagte er; aber doch, hoffe ich, keiner von den größten. Ich habe Böses gethan; aber auch viel Gutes. Einsmals, erinnere ich mich, kam mir ein blöckendes Lamm, welches sich von der Heerde verirret hatte, so nahe, daß ich es gar leicht hätte würgen können; und ich that ihm nichts. Zu eben dieser Zeit hörte ich die Spöttereyen und Schmähungen eines Schafes mit der bewundernswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine schützende Hunde zu fürchten hatte.
Und das alles kann ich dir bezeugen; fiel ihm Freund Fuchs, der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort. Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Umstän- de dabey. Es war zu eben der Zeit, als du dich an dem Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog.
V. Der
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IV. Der Wolf auf dem Todtbette.
Der Wolf lag in den letzten Zügen und ſchickte einen prüfenden Blick auf ſein vergangenes Leben zu- rück. Ich bin freylich ein Sünder, ſagte er; aber doch, hoffe ich, keiner von den größten. Ich habe Böſes gethan; aber auch viel Gutes. Einsmals, erinnere ich mich, kam mir ein blöckendes Lamm, welches ſich von der Heerde verirret hatte, ſo nahe, daß ich es gar leicht hätte würgen können; und ich that ihm nichts. Zu eben dieſer Zeit hörte ich die Spöttereyen und Schmähungen eines Schafes mit der bewundernswürdigſten Gleichgültigkeit an, ob ich ſchon keine ſchützende Hunde zu fürchten hatte.
Und das alles kann ich dir bezeugen; fiel ihm Freund Fuchs, der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort. Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Umſtän- de dabey. Es war zu eben der Zeit, als du dich an dem Beine ſo jämmerlich würgteſt, das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog.
V. Der
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IV.
Der Wolf auf dem Todtbette.
Der Wolf lag in den letzten Zügen und ſchickte
einen prüfenden Blick auf ſein vergangenes Leben zu-
rück. Ich bin freylich ein Sünder, ſagte er; aber
doch, hoffe ich, keiner von den größten. Ich habe
Böſes gethan; aber auch viel Gutes. Einsmals,
erinnere ich mich, kam mir ein blöckendes Lamm,
welches ſich von der Heerde verirret hatte, ſo nahe,
daß ich es gar leicht hätte würgen können; und ich
that ihm nichts. Zu eben dieſer Zeit hörte ich die
Spöttereyen und Schmähungen eines Schafes mit
der bewundernswürdigſten Gleichgültigkeit an, ob
ich ſchon keine ſchützende Hunde zu fürchten hatte.
Und das alles kann ich dir bezeugen; fiel ihm Freund
Fuchs, der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort.
Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Umſtän-
de dabey. Es war zu eben der Zeit, als du dich
an dem Beine ſo jämmerlich würgteſt, das dir der
gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/61>, abgerufen am 04.03.2025.
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