wendigen und Unnüzen. So charakterisirt ihn de la Motte; und richtig. Diese Präcision und Kürze, worinn er ein so grosses Muster war, fan- den die Alten der Natur der Fabel auch so angemes- sen, daß sie eine allgemeine Regel daraus machten. Theon unter andern dringet mit den ausdrück- lichsten Worten darauf.
Auch Phädrus, der sich vornahm die Erfindun- gen des Aesopus in Versen auszubilden, hat offen- bar den festen Vorsatz gehabt, sich an diese Regel zu halten; und wo er davon abgekommen ist, schei- net ihn das Sylbenmaaß und der poetischere Styl, in welchen uns auch das allersimpelste Sylbenmaaß wie unvermeidlich verstrickt, gleichsam wider seinen Willen davon abgebracht zu haben.
Aber la Fontaine? Dieses sonderbare Genie! La Fontaine! Nein wider ihn selbst habe ich nichts; aber wider seine Nachahmer; wider seine blinden Verehrer! La Fontaine kannte die Alten zu gut, als daß er nicht hätte wissen sollen, was ihre Muster und die Natur zu einer vollkommenen Fabel erfor- derten. Er wußte es, daß die Kürze die Seele der
Fabel
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wendigen und Unnüzen. So charakteriſirt ihn de la Motte; und richtig. Dieſe Präciſion und Kürze, worinn er ein ſo groſſes Muſter war, fan- den die Alten der Natur der Fabel auch ſo angemeſ- ſen, daß ſie eine allgemeine Regel daraus machten. Theon unter andern dringet mit den ausdrück- lichſten Worten darauf.
Auch Phädrus, der ſich vornahm die Erfindun- gen des Aeſopus in Verſen auszubilden, hat offen- bar den feſten Vorſatz gehabt, ſich an dieſe Regel zu halten; und wo er davon abgekommen iſt, ſchei- net ihn das Sylbenmaaß und der poetiſchere Styl, in welchen uns auch das allerſimpelſte Sylbenmaaß wie unvermeidlich verſtrickt, gleichſam wider ſeinen Willen davon abgebracht zu haben.
Aber la Fontaine? Dieſes ſonderbare Genie! La Fontaine! Nein wider ihn ſelbſt habe ich nichts; aber wider ſeine Nachahmer; wider ſeine blinden Verehrer! La Fontaine kannte die Alten zu gut, als daß er nicht hätte wiſſen ſollen, was ihre Muſter und die Natur zu einer vollkommenen Fabel erfor- derten. Er wußte es, daß die Kürze die Seele der
Fabel
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wendigen und Unnüzen. So charakteriſirt ihn de
la Motte; und richtig. Dieſe Präciſion und
Kürze, worinn er ein ſo groſſes Muſter war, fan-
den die Alten der Natur der Fabel auch ſo angemeſ-
ſen, daß ſie eine allgemeine Regel daraus machten.
Theon unter andern dringet mit den ausdrück-
lichſten Worten darauf.
Auch Phädrus, der ſich vornahm die Erfindun-
gen des Aeſopus in Verſen auszubilden, hat offen-
bar den feſten Vorſatz gehabt, ſich an dieſe Regel
zu halten; und wo er davon abgekommen iſt, ſchei-
net ihn das Sylbenmaaß und der poetiſchere Styl,
in welchen uns auch das allerſimpelſte Sylbenmaaß
wie unvermeidlich verſtrickt, gleichſam wider ſeinen
Willen davon abgebracht zu haben.
Aber la Fontaine? Dieſes ſonderbare Genie!
La Fontaine! Nein wider ihn ſelbſt habe ich nichts;
aber wider ſeine Nachahmer; wider ſeine blinden
Verehrer! La Fontaine kannte die Alten zu gut,
als daß er nicht hätte wiſſen ſollen, was ihre Muſter
und die Natur zu einer vollkommenen Fabel erfor-
derten. Er wußte es, daß die Kürze die Seele der
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/237>, abgerufen am 16.02.2025.
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