sach nicht sey, hätte der kritische Briefsteller gleich daher abnehmen können, weil nicht bloß die thieri- sche Fabel, sondern auch jede andere aesopische Fabel, wenn sie schon aus vernünftigen Wesen bestehet, der- selben unfähig ist. Die Fabel von dem Lahmen und Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode, läßt sich eben so wenig zur Länge des epischen Ge- dichts erstrecken, als die Fabel von dem Lamme und dem Wolfe, oder von dem Fuchse und dem Raben. Kann es also an der Natur der Thiere liegen? Und wenn man mit Beyspielen streiten wollte, wie viel sehr gute Fabeln liessen sich ihm nicht entgegen setzen, in welchen den Thieren weit mehr, als flüch- tige und dunkle Strahlen einer Vernunft bey- gelegt wird, und man sie ihre Anschläge ziemlich von weiten her zu einem Endzwecke anwenden siehet. Z. E. der Adler und der Käfer*; der Adler, die Katze und das Schwein etc. **.
Unterdessen, dachte ich einsmals bey mir selbst, wenn man dem ohngeachtet eine aesopische Fabel von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie
müßte
*Fab. Aesop. 2.
**Phaedrus libr. II. Fab. 4.
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ſach nicht ſey, hätte der kritiſche Briefſteller gleich daher abnehmen können, weil nicht bloß die thieri- ſche Fabel, ſondern auch jede andere aeſopiſche Fabel, wenn ſie ſchon aus vernünftigen Weſen beſtehet, der- ſelben unfähig iſt. Die Fabel von dem Lahmen und Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode, läßt ſich eben ſo wenig zur Länge des epiſchen Ge- dichts erſtrecken, als die Fabel von dem Lamme und dem Wolfe, oder von dem Fuchſe und dem Raben. Kann es alſo an der Natur der Thiere liegen? Und wenn man mit Beyſpielen ſtreiten wollte, wie viel ſehr gute Fabeln lieſſen ſich ihm nicht entgegen ſetzen, in welchen den Thieren weit mehr, als flüch- tige und dunkle Strahlen einer Vernunft bey- gelegt wird, und man ſie ihre Anſchläge ziemlich von weiten her zu einem Endzwecke anwenden ſiehet. Z. E. der Adler und der Käfer*; der Adler, die Katze und das Schwein ꝛc. **.
Unterdeſſen, dachte ich einsmals bey mir ſelbſt, wenn man dem ohngeachtet eine aeſopiſche Fabel von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie
müßte
*Fab. Aeſop. 2.
**Phædrus libr. II. Fab. 4.
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ſach nicht ſey, hätte der kritiſche Briefſteller gleich
daher abnehmen können, weil nicht bloß die thieri-
ſche Fabel, ſondern auch jede andere aeſopiſche Fabel,
wenn ſie ſchon aus vernünftigen Weſen beſtehet, der-
ſelben unfähig iſt. Die Fabel von dem Lahmen und
Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode,
läßt ſich eben ſo wenig zur Länge des epiſchen Ge-
dichts erſtrecken, als die Fabel von dem Lamme und
dem Wolfe, oder von dem Fuchſe und dem Raben.
Kann es alſo an der Natur der Thiere liegen? Und
wenn man mit Beyſpielen ſtreiten wollte, wie viel
ſehr gute Fabeln lieſſen ſich ihm nicht entgegen
ſetzen, in welchen den Thieren weit mehr, als flüch-
tige und dunkle Strahlen einer Vernunft bey-
gelegt wird, und man ſie ihre Anſchläge ziemlich von
weiten her zu einem Endzwecke anwenden ſiehet.
Z. E. der Adler und der Käfer *; der Adler, die
Katze und das Schwein ꝛc. **.
Unterdeſſen, dachte ich einsmals bey mir ſelbſt,
wenn man dem ohngeachtet eine aeſopiſche Fabel
von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie
müßte
* Fab. Aeſop. 2.
** Phædrus libr. II. Fab. 4.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/233>, abgerufen am 16.02.2025.
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