In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einan- der? -- Aber man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weis jeder, was er höret, und weis, wie sich das eine zu dem andern verhält. Diese Wörter, welche stracks ihre gewissen Bilder in uns erwecken, befördern die anschauende Erkenntniß, die durch jene Namen, bey welchen auch die, denen sie nicht unbekannt sind, gewiß nicht alle vollkommen eben dasselbe denken, verhindert wird. Wenn daher der Fabulist keine vernünftigen Individua auftreiben kann, die sich durch ihre blosse Benennungen in un- sere Einbildungskraft schildern, so ist es ihm erlaubt, und er hat Fug und Recht, dergleichen unter den Thieren oder unter noch geringern Geschöpfen zu suchen. Man setze, in der Fabel von dem Wolfe und dem Lamme, anstatt des Wolfes den Nero, anstatt des Lammes den Britannicus und die Fabel hat auf einmal alles verloren, was sie zu einer Fabel für das ganze menschliche Geschlecht macht. Aber man setze anstatt des Lammes und des Wolfes, den Riesen und den Zwerg, und sie verlieret schon we- niger; denn auch der Riese und der Zwerg sind
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In welchem Verhältniſſe ſtehen ſie gegen einan- der? — Aber man hört: der Wolf und das Lamm; ſogleich weis jeder, was er höret, und weis, wie ſich das eine zu dem andern verhält. Dieſe Wörter, welche ſtracks ihre gewiſſen Bilder in uns erwecken, befördern die anſchauende Erkenntniß, die durch jene Namen, bey welchen auch die, denen ſie nicht unbekannt ſind, gewiß nicht alle vollkommen eben daſſelbe denken, verhindert wird. Wenn daher der Fabuliſt keine vernünftigen Individua auftreiben kann, die ſich durch ihre bloſſe Benennungen in un- ſere Einbildungskraft ſchildern, ſo iſt es ihm erlaubt, und er hat Fug und Recht, dergleichen unter den Thieren oder unter noch geringern Geſchöpfen zu ſuchen. Man ſetze, in der Fabel von dem Wolfe und dem Lamme, anſtatt des Wolfes den Nero, anſtatt des Lammes den Britannicus und die Fabel hat auf einmal alles verloren, was ſie zu einer Fabel für das ganze menſchliche Geſchlecht macht. Aber man ſetze anſtatt des Lammes und des Wolfes, den Rieſen und den Zwerg, und ſie verlieret ſchon we- niger; denn auch der Rieſe und der Zwerg ſind
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In welchem Verhältniſſe ſtehen ſie gegen einan-
der? — Aber man hört: der Wolf und das
Lamm; ſogleich weis jeder, was er höret, und
weis, wie ſich das eine zu dem andern verhält. Dieſe
Wörter, welche ſtracks ihre gewiſſen Bilder in uns
erwecken, befördern die anſchauende Erkenntniß, die
durch jene Namen, bey welchen auch die, denen ſie
nicht unbekannt ſind, gewiß nicht alle vollkommen
eben daſſelbe denken, verhindert wird. Wenn daher
der Fabuliſt keine vernünftigen Individua auftreiben
kann, die ſich durch ihre bloſſe Benennungen in un-
ſere Einbildungskraft ſchildern, ſo iſt es ihm erlaubt,
und er hat Fug und Recht, dergleichen unter den
Thieren oder unter noch geringern Geſchöpfen zu
ſuchen. Man ſetze, in der Fabel von dem Wolfe
und dem Lamme, anſtatt des Wolfes den Nero,
anſtatt des Lammes den Britannicus und die Fabel
hat auf einmal alles verloren, was ſie zu einer Fabel
für das ganze menſchliche Geſchlecht macht. Aber
man ſetze anſtatt des Lammes und des Wolfes, den
Rieſen und den Zwerg, und ſie verlieret ſchon we-
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/203>, abgerufen am 28.07.2024.
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